Hermann Kant: Der dritte Nagel (Erzählung)

kmmai

Buchkritik: Hermann Kant ist gestorben. Er war einer der Großen der DDR-Literatur, aber einer, den nach der Wende kaum noch einer las. Nach seinem Tode kommt die Frage auf: Ist das berechtigt? Kann der wirklich weg, oder war der besser als sein Ruf? Eine Erzählung von ihm schafft in weniger als einer Stunde Klarheit.

„Der dritte Nagel“ heißt die Geschichte, die es als Großdruck-Taschenbuch auf 95 Seiten bringt (Ausgabe von 1989). Ein prima Probierhäppchen. Die Sprache ist einfach, alltäglich und erfordert keine übermäßige Leseanstrengung.

Berlin, X. Schriftstellerkongress, Hermann Kant

Hermann Kant 1987 @ Rainer Mittelstädt

Inhalt: Der Anfang verschlägt einem die Sprache. Der Erzähler, ein Buchhalter namens Farßmann, beklagt sich, dass es keine Tomaten mehr gibt, die nach Tomaten schmecken. Hochaktuell! Noch interessanter: Gurken hatten vor 35 Jahren manchmal noch Aroma. Und schon damals sehnten sich die Leute nach Brötchen von der märchenhaften Beschaffenheit früherer Zeiten. Das scheint sich genau so durch alle Generationen durchzuschlagen wie das Lamento, dass die Jugend verkommen wäre (belegt zuerst bei Platon, also vor mehr als 2000 Jahren).

Doch Herr Farßmann findet dank Umzug einen Bäcker, der noch richtig gute Brötchen backt. Eine halbe Stunde anstellen muss er sich aber täglich dafür. Und weil der Bäcker irrsinnig eifersüchtig ist und ein geschiedener Mensch wie Farßmann ihm die Bäckersfrau abspenstig machen könnte, kauft der Buchhalter nicht nur zwei, sondern gleich sechs Brötchen, Tag für Tag. Das ist teuer, zumal die Kunden verpflichtet sind, neben himmlischen Brötchen die misslungenen Torten zu kaufen. Den Überschuss bringt Farßmann ins Büro mit, wo er schon bald durch seine Kuchenconnection mit einem fresssüchtigen Fräulein ins Gerede kommt.

Farßmann lernt alles Wissenswerte über den Bäcker von einer schwerhörigen Nachbarin, die hinter ihm in der Schlange steht. Und die tratscht dem Bäcker weiter, was sie über Farßmann in Erfahrung bringt. Dank der Schwerhörigkeit wird aus dem Buchhalter Farßmann ein Buchhändler. Und der weckt Begehrlichkeiten beim Bäcker. Denn jener hätte gern das extrem schwer zu beschaffende, schlüpfrige Buch „Kin Ping Meh“. Dafür verspricht der Bäcker dem Farßmann den dritten Nagel im Hinterhof: Jeden Morgen einen Beutel mit warmen Brötchen, ohne Anstehen, ohne zusätzlichen Tortenkauf. Das Angebot ist für Farßmann zu verlockend, als dass er das Missverständnis aufklären wollte.

So versucht er, die schlüpfrige Schwarte vom Vetter zu organisieren. Der möchte Ballkarten dafür. Der Ballkartenverteiler hätte gern einen Freitagstermin bei der Standesbeamtin, die gern ein privates Telefon. So endet Farßmann beim Vergeber von Telefonanschlüssen. Blöderweise braucht der nichts. Doch dann steigt ihm der Geruch der Brötchen in die Nase. Also alles klar, die Kette löst sich auf. Doch der Beutel am Nagel geht von nun an zum Telefonmann, und Farßmann, der Buchhalter ohne Tauschkapital, steht frühmorgens wieder Schlange.

Immerhin: Jetzt kauft er jeden Tag nur noch zwei Brötchen, plus obligaten Kuchen. Und er beobachtet mit Vorfreude, wie der Telefonmann hin und wieder in die Bäckerei geht und der Bäckersfrau Komplimente macht. Ganz so, wie Farßmann ihm empfohlen hatte.

Fazit: Eine kleine, ins Groteske getriebene Rachegeschichte. Sie vereint überzeitliche Elemente wie der Trauer um verlorene Qualität von Esswaren (ich denke da an neuzeitliche Äpfel, die keinen Geschmack mehr haben) und einen Einblick in die DDR-Verhältnisse, wo Tauschware eine höhere Währung als die Ost-Mark darstellte. Ob man nun die DDR-Schullektüre „Die Aula“ lesen sollte, kann ich nicht einschätzen, aber: In seinen Erzählungen ist er großartig. Faustregel: Ab den 1980er Jahren ist die Gefahr von zu viel Ideologie im Buch sehr gering.

Geschrieben von Katrin Mai

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