Sechs Fragen an Jerry Carlsson

Doreen Kaltenecker
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© Allt Vi Delar

Interview: Im Gespräch mit dem schwedischen Filmemacher Jerry Carlsson konnten wir mehr über seinen Kurzfilm „Shadow Animals“ (OT: „Skuggdjur“) erfahren, welches Bild ihn zu der Geschichte führte und wie die außergewöhnlichen Choreographien für diesen Film entstanden.

The original english language interview is also available.

Dein Kurzfilm „Shadow Animals“ (OT: „Skuggdjur“) gehörte zu den außergewöhnlichste Filmen in der letztjährigen Festivallandschaft und lässt sich schwer fassen. Erzähl mir von der grundlegenden Idee. Und kannst Du uns auch den Titel näher erklären?

Shadow Animals“ ist ein surreales Drama mit Körpertheater-Elementen über die Erfahrung eines jungen Mädchens mit einer Dinnerparty, an der sie mit ihren Eltern teilnimmt. Wir folgen ihren Erfahrungen mit dem Verhalten der Erwachsenen und ihren sozialen Ritualen, die sie noch nicht ganz entschlüsselt und verstanden hat. 

Der Ursprung dieses Films war ein Bild, das ich in meinem Kopf sah, an das ich nicht aufhören konnte, zu denken. Es war das Bild einer Frau, die in einem Wohnzimmer steht und ihre ganze Faust im Mund eines Mannes hat und sie nicht herausziehen kann. Da wir nicht verstanden, worum es bei diesem Bild ging, begannen wir, es zu erforschen, und aus diesem Bild entwickelten wir den gesamten Film, Stück für Stück. 

© Josef Persson

Schon früh wusste ich, dass es um menschliches Verhalten und vor allem um den Menschen als soziales Herdentier gehen würde. Wie wir das Bedürfnis haben, zu einer Gruppe zu gehören, um zu existieren und am Leben zu bleiben. Wie wir uns anpassen, um Teil einer Gruppe zu sein, und die Tatsache, dass wir Erwachsene uns nur selten die Frage stellen, warum wir Dinge tatsächlich auf eine bestimmte Art und Weise tun. Die Angst, ausgeschlossen zu werden, kann manchmal so stark werden, dass wir gegen unseren eigenen Willen und gegen unsere Natur handeln, nur um uns anzupassen. Wir replizieren und imitieren das Verhalten anderer, ohne es zu hinterfragen. Wir werden zu Schattentieren. 

In welches Genre würdest Du Deine Geschichte einordnen?

Ich wollte das Genre nicht festlegen, als wir ihn geschaffen haben. Ich wusste, dass es ein Spielfilm werden würde, in dem der Tanz ein wichtiges Element ist. Ich wollte auch etwas machen, das gleichzeitig spielerisch, absurd, lustig und beängstigend ist, ohne die Einschränkungen eines Genres. Es ist immer noch nicht einfach, es nur in ein Genre zu stellen, und wir haben es schließlich als surreales Drama mit Elementen des Körpertheaters bezeichnet. 

Auch zeitlich lässt sich der Film schwer einordnen. Kannst Du mir mehr zur visuellen Ausgestaltung erzählen und warum die Farbe Braun so überwiegt?

Ich wollte einen Film schaffen, der die Erfahrung der Hauptfigur und die Erinnerung an die Geschehnisse dieses Abends darstellt. Das bedeutet, dass wir sehen und erleben, woran sie sich erinnert. Um diese Qualität zu erreichen, wollte ich visuell ein Gefühl von Erinnerungen schaffen, das aber nicht nur mit einem einzigen Zeitabschnitt verbunden ist. Ich wollte eine eklektische Erinnerung, in der wir Zeitabschnitte und Elemente der Kindheit aus verschiedenen Jahrzehnten vermischen und in einer zusammenhängenden Erinnerung dieser Figur zusammenfassen. Dieser Stil war für mich wichtig, um den absurden Realismus zu erreichen, den ich mir für den Film wünschte. 

Besonders interessant ist auch die Choreographie des Tanzes. Magst Du uns mehr zu dazu erzählen?

Ich glaube, dass Tanz und Film als Kunstformen so viel gemeinsam haben, die beiden wichtigsten Qualitäten sind für mich Rhythmus und Bewegung. Mit „Shadow Animals“ wollte ich den Tanzfilm erforschen und eine Sprache für den Film finden, in der Schauspiel und Tanz in einer Sprache verschmelzen. Durch Bilder, Themen und soziale Rituale haben wir eine surreale Sprache gefunden, in der Schauspielerei zu Bewegung wird, und in der Bewegung und Tanz zu einem wesentlichen Bestandteil wird, um diese Geschichte über menschliches Verhalten durch soziale Rituale zu erzählen.

Die Choreographie habe ich zusammen mit Künstlern der Göteborger Operntanzkompanie entwickelt. Wir untersuchten soziale Rituale, wie Begrüßungs-, Essens-, Tanz- und Paarungsrituale. Wir wollten sie verstehen und fragten uns, warum wir sie machen und woraus sie physisch bestehen. Wir nahmen sie Stück für Stück auseinander und bauten aus den Stücken unsere eigenen sozialen Rituale auf, die den ursprünglichen Ritualen ähnelten, aber leicht absurd waren. Als sähen wir sie zum ersten Mal, noch nicht vollständig entschlüsselt, aber doch unheimlich vertraut.

Ich wollte auch dekonstruieren, warum Menschen und Tiere tanzen. Ich wollte den Zweck des Tanzes untersuchen und fand heraus, dass er ein wichtiger Teil der Paarungsrituale aller Arten ist. Ich schaute mir viele Paarungsvideos von Tieren an, um mich inspirieren zu lassen und versuchte, Ähnlichkeiten zwischen ihren und unseren Ritualen zu finden. Am Ende habe ich die Tanzszene im Wohnzimmer auf Flamingos und ihr Paarungsritual bezogen, was ich äußerst faszinierend finde und dem Menschen, der in einem Club tanzt und nach einem Partner sucht, sehr ähnlich ist. Die Bewegungen in dieser Szene sind die von Flamingos, die von Menschen ausgeführt werden. Sie paaren sich sogar wie die Vögel, indem sie sich an der Kloake paaren, aber bei den „Shadow Animals“ machen sie es Achsel zu Achsel. 

Erzähl mir mehr zu Deinem überzeugenden Cast – vor allem wie Du die kleine Hauptdarstellerin Ayla Turin gefunden hast?

Für mich war es wichtig, bei diesem Film sowohl mit den Schauspielern als auch mit den Tänzern zu arbeiten, um die Sprache und die Choreographie zu entwickeln. So stellten wir eine Besetzung mit großartigen Schauspielern und Tänzern zusammen, und wir konnten auch mit einer erstaunlichen Gruppe von Künstlern der Göteborger Operntanzkompanie arbeiten. 

Um die Hauptdarstellerin zu finden, haben wir ein umfangreiches Casting durchgeführt und viele Kinder für die Rolle vorsprechen lassen. Für mich war es wichtig, ein 6- bis 7-jähriges Kind zu finden. In diesem Alter ist man noch ein Kind, aber man beginnt, sich seiner selbst bewusst zu werden in Bezug auf andere, sowohl auf den eigenen Körper als auch auf alle um einen herum als Gruppe. Man ahmt seine Eltern nach und passt sich den anderen Kindern in der Schule an. Es ist eine Zeit, die sehr verwirrend und herausfordernd sein kann. 

Ayla, die Hauptdarstellerin, war eigentlich eine Verwandte meiner Casting-Direktorin, die zu ihrem ersten Vorsprechen überhaupt kam und es einfach nur ausprobieren wollte. Sie hatte vorher noch nie gespielt, und nachdem sie sie ein paar Mal getroffen hatte, war es einfach extrem offensichtlich, dass dies ihr Film war. Es gab niemanden, der die Figur so spielen konnte wie sie. Sie hatte diese brillante, intensive Präsenz, als sie spielte, und ich war von ihrem Fokus überwältigt.

© Josef Persson

Ich erinnere mich, dass ich sie vor den Dreharbeiten zum Drehort brachte, um Szene für Szene durch das Drehbuch zu gehen. Selbst während dieses Rundgangs erlebte und stellte sie sich alles vor, was sie im Drehbuch gelesen hatte, ohne dass jemand anders dabei war. Als wir zur Kellertreppe kamen, bat sie mich, oben zu warten, damit sie den Keller selbst erkunden könne. Ich zögerte eine Sekunde, da der Keller eigentlich sehr unheimlich war, aber sie wollte es wirklich selbst tun. Also sah ich sie allein in den dunklen Keller gehen. Sie war etwa zehn Minuten lang allein dort unten, bis sie wieder nach oben kam, sehr aufgeregt über ihr beängstigendes Abenteuer. Sie hatte diese erstaunliche Phantasie und schuf jedes Mal, wenn sie die Szenen spielte, ein echtes Erlebnis. Sie hat mich völlig umgehauen, und ich glaube nicht, dass dieser Film ohne sie gemacht worden wäre.

Ich finde die Geschichte ist noch nicht zu Ende erzählt. Könntest Du Dir eine Langfilmvariante davon vorstellen?

Ich denke, genau diese Geschichte hat ihre eigene Länge in diesem Kurzfilm, aber ich entwickle gerade einen Spielfilm, der auf derselben Welt, demselben Thema und derselben Geschichte basiert wie „Shadow Animals“. Er wird dem Kurzfilm in gewisser Weise ähneln, aber er wird sich weiterentwickeln und noch weiter in menschliches Verhalten eintauchen.  

Die Fragen stellte Doreen Matthei
Übersetzung von Michael Kaltenecker

Lies auch die Rezension des Kurzfilms „Shadow Animals


Interview: In our conversation with the Swedish filmmaker Jerry Carlsson we could learn more about his short film “Shadow Animals” (OT: “Skuggdjur”), which image led him to the story and how the extraordinary choreography for this film was created.

Your short movie “Shadow Animals” (OT: “Skuggdjur”) belonged to the most exceptional films in the last years festival landscape and is hard to define. Tell me about the basic idea. And can you explain the title to us?

Shadow Animals” is a surreal movement-based drama about a young girls experience of a dinner party she attends with her parents. We follow her experiences of the adults’ behavior and their social rituals, that she hasn’t quite yet decoded and understood. 

The first seed of this film was an image that I saw in my head, that I couldn’t stop thinking about. It was an image of a woman standing in a living room having her entire fist inside of a man’s mouth, not being able to pull it out. Not understanding what this image was about, we started to explore it and from this image we developed the entire film, piece by piece. 

Early on I knew it would be about human behavior and especially humans as social herd animals. How we have a need to belong to a group in order to exist and stay alive. How we adapt in order to be a part of a group and the fact that we adults rarely ask ourselves the question; why do we actually do things a certain way? The fear of being excluded can sometimes become so strong that we go against our own will and nature, just in order to fit in. We replicate and imitate the behavior of others without questioning it. We become Shadow Animals. 

In which genre would you classify your story?

I didn’t want to specify it’s genre when we created it. I knew it was going to be a fiction film, containing dance as a vital element. I also wanted to make something that was both playful, absurd, funny and scary at the same time, without restrictions of one genre. It is still not easy to place it in only one genre, and we’ve ended up calling it a surreal movement-based drama. 

The film is also difficult to classify in terms of time period. Can you tell me more about the visual design and why the color brown dominates so much?

I wanted to create a film that is the main character’s experience and memory of what happened this evening. Which means that we see and experience what she remembers. In order to achieve that quality I visually wanted to create a feeling of memories, but one that is not connected to only one single time period. I wanted an eclectic memory where we mix time periods and elements of childhood from different decades, and gather it in a cohesive memory of this character. This style was important for me in order to achieve the absurd realism that I wanted for the film. 

Especially interesting is the choreography of the dance. Would you like to tell us more about it?

I believe that dance and film as art forms have so much in common, to me the two most important qualities are rhythm and movement. With “Shadow Animals” I wanted to explore dance film and find a language for film, where acting and dancing merges into one language. Through images, theme and social rituals we found a surreal language where acting becomes movement, and where movement and dancing becomes a vital part to tell this story about human behaviour through social rituals.

I developed the choreography together with artists from the Gothenburg Opera Dance company. We investigated social rituals, such as greeting-, dinner-, dancing- and mating rituals. We wanted to understand them and asked ourselves why we do them and what they physically consist of. We picked them apart piece by piece and we used the pieces to build our own social rituals, that resembled the original ones but were slightly absurd. As if we saw them for the first time, not yet fully decoded but still eerily familiar.

I also wanted to deconstruct why humans and animals dance. To look at the purpose of dancing and found that it is a major part of all species’ mating rituals. I looked at a lot of animal mating videos for inspiration, trying to find similarities between their rituals and ours. I ended up basing the dancing scene in the living room on flamingos and their mating ritual, which I find extremely fascinating and very similar to humans dancing in a club, looking for a mate. The movement s in that scene are flamingos, performed by humans. They even mate the way birds do, mating by cloaca, but in “Shadow Animals” they do it armpit to armpit. 

Tell me about your convincing cast – especially how you found leading actress Ayla Turin. 

It was important for me to work with both actors and dancers in this film, in order to develop the language and the choreography. So we put together a cast of great actors and dancers, we were also able to work with an amazing group of artists from the Gothenburg Opera Dance Company. 

In order to find the leading actress we had an extensive casting process and auditioned a lot of children for the role. To me it was important to find a 6-7 year old child, it is that age when you’re still a child but you start to become aware of yourself In relation to others, both your own body but also everyone around you as a group. You imitate your parents, and you adapt to the other kids at school. It is a period that can be very confusing and challenging. 

Ayla, the lead actor, was actually a relative to my casting director who came in for her first audition ever and just wanted to try it. She had never acted before and after meeting her a couple of times it was just extremely obvious that this was her film. There was no one else who could play the character like her. She had this brilliant intense presence when she acted and I was blown away by her focus.

I remember taking her to the location before the shoot, to walk through the script, scene by scene. Even during this walkthrough she experienced and imagined everything she has read in the script, without anyone else being there. When we came to the stairs to the basement, she asked me to wait upstairs so she could explore the basement herself. I hesitated for a second since the basement actually was very scary, but she really wanted to do it herself. So I saw her walking down to the dark basement, alone. She was down there by herself for ten minutes or so until she came back upstairs, very excited about her scary adventure. She had this amazing imagination and created a genuine experience of the scenes every time she did them. She completely blew me away and I don’t think this film would’ve been made without her.

I think the story might not have been told to the end yet. Could you imagine a feature-length version of it?

I think this exact story has its length in this short film but I’m developing a feature based on the same world, theme and story as “Shadow Animals“. It will in some ways resemble the short film but it will develop and dive even further into human behaviour.  

Questions asked by Doreen Matthei

Read on the german review of the shortfilm “Shadow Animals” 

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