Sieben Fragen an Vincent René-Lortie

Doreen Kaltenecker
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Interview: Im Gespräch mit dem kanadischen Regisseur und Drehbuchschreiber Vincent René-Lortie konnten wir mehr über seinen Kurzfilm „Invincible“, der seine Deutsche Premiere auf dem 30. Filmfestival Oldenburg 2023 feierte, erfahren. Er spricht darüber, warum er sich entschied, die persönliche Geschichte seines Freundes Marcs zu erzählen und warum es deshalb so wichtig war, den geeigneten Schauspieler dafür zu finden.

The original english language interview is also available.

Du verarbeitest in Deinem Kurzfilm den Verlust eines Jugendfreundes. Warum hast Du Dich dafür entschieden, diese Geschichte filmisch aufzuarbeiten?

Es war sicherlich ein Ereignis, das mich als Teenager tief getroffen hat. Marc war ein sehr enger Freund, und als er starb, konnte ich nicht verstehen, warum. Damals war ich davon überzeugt, dass es sich um einen Unfall handelte, aber ich hatte immer das Gefühl, dass es viel mehr als das war. Marcs Geschichte war komplex, und ich wusste das. Der Film war für mich eine Möglichkeit, mich diesem Freund anzunähern, ihn zu verstehen und so eine bessere Vorstellung davon zu bekommen, warum er ein so tragisches Ende gefunden hat.

In welchem Rahmen und über welchen Zeitraum habt ihr den Film realisiert?

Léokim Beaumier-Lépine

Ich habe fünf Jahre gebraucht, um den Film fertigzustellen, von der ersten Idee bis zur ersten Vorführung. Dafür gibt es mehrere Gründe: Zu Beginn wollte ich mir Zeit lassen. Es handelte sich um ein sensibles Thema, das das Leben mehrerer Menschen in meinem Umfeld tief beeinflusst hatte. Also habe ich mich an Marcs Familie und Freunde gewandt. Ich wollte sichergehen, dass sie mit der Idee einverstanden waren, aber ich wollte auch ihre Erinnerungen an Marc in den Monaten vor seinem Tod aufarbeiten. Ich recherchierte ausführlich über den Vorfall und begann dann mit dem Schreiben. 

Es folgte ein langwieriger Prozess von Fördermittelanträgen. Damals war es mein erster Spielfilm, und es dauerte eine Weile, bis ich die nötigen Mittel zusammen hatte. Dann kam die Pandemie… Kurz gesagt, es war ein langer Weg, aber all diese Zeit ermöglichte es uns, den Film zu überarbeiten und uns wirklich Zeit zu lassen. Ich glaube, unsere Dreharbeiten dauerten sieben Tage. Ich wurde von einem Team begleitet, das mich seit Beginn des Projekts bei diesem Abenteuer unterstützt hat. Es war ein magischer Moment, als der Film vor unseren Augen zum Leben erwachte.

Was lag Dir visuell am Herzen?

Léokim Beaumier-Lépine

Es gab mehrere visuelle Inspirationen. Denis Villeneuves „Incendies“ und Steve McQueens „Hunger“ standen ganz oben auf meiner Liste. Für mich vermitteln diese Filme ein authentisches Bild, das sich vor allem auf die Leistung der Charaktere konzentriert, aber durch durchdachte Kompositionen gekennzeichnet ist – ein Bild, das die Darstellung beobachtet und ihr Raum zum Atmen lässt. Ich wollte etwas Gemächliches, ohne eine allzu aufdringliche Handkamera. Außerdem war ich auf der Suche nach einem realistischen, aber dennoch hochwertigen Look, bei dem die Beleuchtung bzw. das Fehlen derselben eine wichtige Rolle spielt. Was die Farben anbelangt, so haben sie Marcs Emotionen auf direkte Weise dargestellt. Wenn er sich außerhalb der Jugendstrafanstalt aufhielt, bevorzugten wir warme, beruhigende Töne, während wir in der Anstalt mit dunkleren und kälteren Farben einen klaustrophobischen Effekt erzielen wollten.

Léokim Beaumier-Lépine als Hauptfigur, aber auch alle anderen Schauspieler:innen vermitteln einen starken Eindruck. Wie hast Du Deinen Cast gefunden? Und war es schwer, die Rolle des Marc zu besetzen?

Léokim Beaumier-Lépine

Vielen Dank für Ihre freundlichen Worte. Es war in der Tat ein langwieriger Prozess. Die meisten unserer jungen Darsteller waren Nicht-Schauspieler, darunter auch Léokim, der zuvor nur einmal eine Hintergrundrolle gespielt hatte. Für seine Rolle war es entscheidend, jemanden zu finden, der dem echten Marc ähnelt, und das war für mich sehr wichtig.

Ich erzähle oft, dass Léokim vor seinem Vorsprechen nicht zu den Top-Kandidaten gehörte – auf den Fotos hatte er keine große Ähnlichkeit mit Marc. Als er jedoch den Casting-Raum betrat, hinterließ er einen bleibenden Eindruck. Ich merkte schnell, dass er eine tiefe Verbindung zu seinen Gefühlen und ein tiefes Verständnis für die Rolle hatte.

Ein paar Wochen später rasierte ich ihm bei den Proben den Kopf. Das war ein so lustiger und schöner Moment! In dieser Zeit sahen wir zum ersten Mal die bemerkenswerte Ähnlichkeit mit dem echten Marc.

So bewegend und persönlich Dein Film ist, er ist auch aufklärend. Könntest Du Dir einen Einsatz beispielsweise in Schulen vorstellen?

Auf jeden Fall! Ich habe bereits damit begonnen, Workshops in Schulen zu veranstalten, um über den Film und den Prozess des Filmemachens zu sprechen. Das ist vor allem etwas, was wir tun wollen, sobald der Film online veröffentlicht ist und unsere Festivalreise abgeschlossen ist. Ich würde sehr gerne Schulen hier in Quebec sowie Jugend- und Gemeindezentren besuchen, um über die Forschung hinter dem Film, die psychische Gesundheit junger Menschen und die verfügbaren Ressourcen für Teenager und ihre Familien zu sprechen.

Kannst Du mir noch ein bisschen mehr von Dir erzählen und wie Du zum Film gekommen bist?

Ich habe es einfach geliebt, Geschichten zu erzählen, seit ich sehr jung war. Das war schon immer ein Teil von mir. Ich weiß noch, wie ich als Kind Musik hörte und mir völlig abenteuerliche Szenarien ausmalte – und selbst jetzt, mit Anfang dreißig, tue ich das immer noch. Meine größte Freude ist es, Geschichten zu erfinden, sie zu schreiben und tief in ihre Bedeutung einzutauchen. Ich genieße es, das Publikum herauszufordern, es zum Nachdenken, zum Hinterfragen und auch zum Träumen anzuregen. Und ich bin so glücklich, dass ich das heute beruflich machen kann.

Sind bereits andere Projekte geplant?

Léokim Beaumier-Lépine

Ich bin gerade dabei, einen experimentellen Kurzfilm fertigzustellen, und fahre diesen Mittwoch, den 1. November, nach Vancouver, um eine Szene für den Film zu drehen. Ein weiteres Projekt, das mir besonders am Herzen liegt, ist mein erster Spielfilm, an dem ich seit einem Jahr arbeite. Zu diesem Zeitpunkt kann ich noch nicht zu viel verraten, aber das Projekt kommt gut voran. Ich bin sehr gespannt auf die kommenden Entwicklungen und freue mich schon darauf, dieses Werk eines Tages mit der Öffentlichkeit zu teilen.

Die Fragen stellte Doreen Kaltenecker
Übersetzung von Michael Kaltenecker

Lies auch die Rezension des Kurzfilms „Invincible


Interview: In our conversation with Canadian director and screenwriter Vincent René-Lortie, we were able to find out more about his short film “Invincible“, which celebrated its German premiere at the 30th Oldenburg Film Festival 2023. He talks about why he decided to tell the personal story of his friend Marc and why it was so important to find the right actor for it.

In your short film, you deal with the loss of a childhood friend. Why did you decide to work through this experience on film?

It was certainly an event that deeply affected me when I was a teenager. Marc was a very close friend, and when he passed away, I couldn’t understand why. At that time, I was convinced it was an accident, but I always had a feeling deep down that it was much more than that. Marc’s story was complex, and I knew it. For me, making this film was a way to get closer to this friend, to try to understand him, and thus get a better idea of why he had come to such a tragic end.

In what setting and over what period of time did you direct the film?

It took me 5 years to complete the film, from its initial idea to the first screening. But there are several reasons for this – I wanted to take my time at the outset. It was a sensitive subject that had deeply impacted the lives of several people around me. So, I reached out to Marc’s family and friends. I wanted to make sure they were comfortable with the idea, but I also wanted to revisit their memories of Marc in the months leading up to his passing. I conducted extensive research on the incident, and then I began writing. 

This was followed by a protracted process of grant applications. At the time, it was my first live-action film, so it took a while to secure the necessary funding. Then came the pandemic… In short, it was a lengthy journey, but all that time allowed us to rework the film and really take our time with it. I believe our shoot lasted 7 days. I was accompanied by a team that had been with me on this adventure from the very beginning of the project. It was a magical moment as the film came to life before our eyes.

What was visually close to your heart?

There were several visual inspirations. Denis Villeneuve’s “Incendies” and Steve McQueen’s “Hunger” were at the top of my list. For me, these films convey a genuine image, focused on character performance above all, but characterized by thoughtful compositions – an image that observes and allows the performance to breathe. I wanted something unhurried, avoiding an overly assertive handheld camera. I was also looking for a realistic yet refined look, where lighting, or the absence of it, plays a significant role. As for colors, they straightforwardly represented Marc’s emotions. When he was outside the juvenile center, we prioritized warm, comforting tones, while when he was inside, we aimed to create a claustrophobic effect with darker and colder colors.

Léokim Beaumier-Lépine as the main character, but also all the other actors, make a strong impression. How did you find your cast? And was it difficult to cast the role of Marc?

Thank you so much for your kind words. It was indeed a lengthy process. The majority of our young cast were non-actors, including Léokim, who had only played a background role once before. When it came to his character, it was crucial to find someone who resembled the real Marc, and this held deep importance for me.

I often share the story that Léokim wasn’t a top contender before his audition – he didn’t bear much resemblance to Marc based on his photos. However, when he walked into the audition room, it left a lasting impression. I quickly realized he had a profound connection to his emotions and a deep understanding of the character.

A few weeks later, while in rehearsals, I shaved his head. It was such a fun and beautiful moment! It was during this time that we witnessed, for the first time, the remarkable resemblance to the real Marc. 

As moving and personal as your film is, it is also enlightening. Could you imagine using it in schools, for example?

Absolutely! I’ve already started conducting workshops in schools to discuss the film, as well as the filmmaking process. Above all, it’s something we plan to do once the film is released online and our festival journey concludes. I’d really love to visit schools here in Quebec, as well as youth centers and community centers, with the aim of discussing the research behind the film, mental health among young people, and the available resources for teenagers and their families.

Can you tell me a bit more about yourself? (I wasn’t sure what to answer here so I describe a bit more what brought me into filmmaking)

I’ve simply loved telling stories since I was very young. It’s always been a part of who I am. I remember, as a child, I used to listen to music and imagine completely adventurous scenarios – and even now, in my early thirties, I still do that. My greatest joy comes from crafting stories, writing them, and delving deep into their meaning. I enjoy challenging the audience, prompting them to think, to question, and also to dream. And I feel so fortunate today to be able to do this as my job.

Are there already other projects planned?

I’m currently wrapping up an experimental short film, and in fact, I’m leaving for Vancouver this Wednesday, November 1st, to shoot a scene for the film. Also, a project that holds a special place in my heart is my first feature film, which I’ve been developing for the past year. I can’t reveal too much at this point, but the project is progressing well. I’m so excited about the upcoming developments, and I’m eagerly looking forward to sharing this work with the public one day.

Questions asked by Doreen Kaltenecker

Read on the german review of the short film “Invincible

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