Elf Fragen an Benjamin Rost

Doreen Kaltenecker
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Interview: Nachdem der Dokumentarfilm „Nachtwanderer” auf dem DOK Leipzig seine Weltpremiere feierte, erzählt uns der Regisseur Benjamin Rost im Interview, wie er auf die Idee zu seinem Film kam, welche Leidenschaft ihn antreibt und wie es war, auf der Raststätte zu leben und all diesen Menschen zu begegnen.

Wie kam es zu der Idee deines 60-minütigen Films „Nachtwanderer“?

Eigentlich plante ich einen ganz anderen Film. Ich wollte meine Eltern portraitieren. Doch nach monatelangen Recherchen und Interviews mit ihnen habe ich festgestellt, dass ein Film unsere Beziehung eher entzweien würde, als uns zusammenbringen. So beschloss ich eines Tages, dass ich diesen Film nicht machen kann. Das war extrem hart. Ich war zu der Zeit in Berlin. Und gleichzeitig war es schon April und die Filmakademie [Anm. d. Red. Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg] forderte von uns als Studenten, dass wir den April als Drehzeitraum nutzen. So fuhr ich also in einer Mitfahrgelegenheit Richtung Ludwigsburg, ohne einen Film im Gepäck, aber mit der Gewissheit, dass meine Entscheidung richtig ist. Ich schaute aus dem Fenster und sah im Vorbeifahren dieses Schild an der Autobahn stehen: in Neon-Schrift und leuchtend stand darauf geschrieben ‘Erlebnis-Raststätte’. Ich fragte mich: „Was ist denn eine ‘Erlebnisraststätte’ – was soll man da erleben? An einem Ort wo die meisten nur kurz Kaffee trinken und wieder zurück auf die Autobahn fahren.“ Und zum zweiten hatte ich das intensive Gefühl, dass das der perfekte Ort für mich in meiner Lebenssituation ist. Ein ‘Zwischendrin’. Ich wollte weder zurück in meine Heimat, noch zurück in mein Leben nach Ludwigsburg. Also dachte ich: wenn ich das so empfinde, dass ich an diesem schrägen Ort länger bleiben möchte, dann gibt es da vielleicht noch andere Menschen, die dort etwas Besonderes finden. Zwei  Wochen später haben wir einen Wohnwagen gemietet und sind auf die Raststätte gezogen – auf der Suche nach Verbündeten.

Die Dreharbeiten stelle ich mir fast abenteuerlich vor. Kannst Du mir mehr davon erzählen und mit welchen Equipment ihr bewaffnet wart?

Abenteuerlich war das schon. Und ohne ein total engagiertes Team im Rücken wäre das auch nicht gegangen. Ich erzählte noch am gleichen Abend meiner Rückfahrt von Berlin einem Team von meiner Entscheidung den Film über meine Eltern nicht zu machen. Und dass ich eine neue Idee habe, die aber ganz anders ist. Ich stellte jedem Teammitglied frei auszusteigen. Aber zu meiner Überraschung blieben alle dabei. Leonhard Kaufmann als Kameramann, Janina Kaltenböck als Editorin und Lennart Lenzing als Producer. Da wusste ich, dass wir gemeinsam auch einen so experimentellen Film wie „ Nachtwanderer” realisieren können. Wir zogen also für sechs Wochen auf die Raststätte: Tag und Nacht das Rauschen der Autobahn, der Geruch von Benzin und Cheeseburgern in der Nase. Darüber hinaus haben wir uns ein strenges Dogma auferlegt. Wir wollten im Stil von Direct Cinema drehen. Das heißt jede unserer Begegnungen sollte so authentisch wie möglich aufgenommen werden. Die Kamera sollte immer schon bei der ersten Begegnung, beim ersten „Hallo“, laufen. Zusätzlich haben wir nur eine einzige Linse mit einer Brennweite von 25 mm benutzt, um Nähe und Distanz authentisch darstellen zu können. Teilweise warteten wir dadurch natürlich tagelang ohne dass irgendetwas passierte. So wie es auch im Film zu sehen ist, starrten wir stundenlang aus dem Fenster unseres Wohnwagens. Und wenn uns etwas auffiel ging es ganz schnell los. Irgendwann wurde aber auch das einfacher. Mit unserem Wohnwagen waren wir schließlich auffällig. Wir wurden mit der Zeit wie zu einer Art Beichtstuhl, der einzigen Konstanten an einem sonst flüchtigen Transitort. Und Leute kamen uns von sich aus besuchen und sprachen uns an.

Ursprünglich hattet ihr auch Aufnahmen am Tag gemacht, habt euch dann nur für die nächtlichen Szenen entschieden. Kannst Du mir mehr dazu erzählen und vielleicht von Deinem persönlichen Eindruck, wie sich die Stimmung unterscheidet in der Nacht vom Tag?

Natürlich spielte von Anfang an die Nacht eine große Rolle. Das war schon in den ersten Diskussionen so. Wir hatten schon früh die Idee, dass die Raststätte aussehen soll wie ein Raumschiff, das durch die Nacht wabert, die Autobahngeräusche sollten wie der Motor klingen und die einfahrenden Autos wie Space-Shuttles aussehen. Alles sollte irgendwie aus Zeit und Raum enthoben sein. Anfangs waren wir aber nicht sicher, ob wir nicht zumindest auch Begegnungen tagsüber zulassen sollten, die dann in die Nacht reichen. Wir mussten ja erst einmal Regelmäßigkeiten und Systeme an der Raststätte verstehen, um da sicher zu werden. Wer kommt wann und macht was zu welcher Zeit? So gibt es auch immer wieder Tag- oder zumindest Abendszenen im Rohmaterial. Bei Tag ist die Raststätte dann natürlich nicht so verzaubernd, wie im nächtlichen Neonlicht. Oder wie Saskia Walker von der DOK Leipzig  ziemlich treffend schreibt: „Die Nacht macht Menschen und Dinge schöner.“ Bei Tageslicht ist der Ort roh und grau und das Plastik sieht eben nach Plastik aus und wird nicht unter Neonfarbröhrenlicht zu einem Regenbogen in der Nacht. Der Entschluss, ausschließlich Nachts zu drehen, passierte aber dennoch relativ schnell. Ich würde sagen innerhalb der ersten zwei Wochen. Es ist einfach der konsequente Schritt, wenn man einen Nicht-Ort zeitlos und ortsungebunden erzählen will. Und die Nacht hilft einfach auch Intimität aufzubauen. Sie ist wie ein Decke, unter der man sich versteckt und Geheimnisse austauscht.

Wie viele Menschen hast Du in dieser Zeit angesprochen? Wie haben die meisten reagiert? War es schwierig sich auf diese Charaktere zu begrenzen?

Ich denke es gibt circa zehn relevante Begegnungen mit denen wir wirklich gearbeitet haben. Viele andere liefen natürlich ins Leere. Das ist eben das Risiko von Direct Cinema, also wenn man spontan auf Menschen zugeht. Im übertragenen Sinne hatten wir immer das Bild im Kopf, dass die Begegnungen wie Motten sind, die kurz zum Licht kommen und dann wieder in der Dunkelheit verschwinden. Deswegen sind alle unsere Begegnungen auch später im Film unterschiedlich tief und intim. Bei manchen kommen wir eben weiter, fahren gemeinsam nächtelang im Kreis, bei manchen anderen bleibt es bei einer reinen Beobachtung. Die Reaktionen auf die Kamera waren auch immer unterschiedlich. Witzigerweise kam es mehrmals vor, dass wir teilweise über eine Stunde mit Leuten gedreht haben und erst dann kam die Frage: „Was macht ihr hier eigentlich?” Das hat denke ich zwei Gründe. Zum einen ist der Kameramann Leonhard Kaufmann nicht nur ein großartiger Bildgestalter, sondern auch ein sehr sensibler Mensch, der einfach ganz oft spürte, wann er wie weit mit der Kamera ran gehen konnte. Zum anderen hängt das glaube ich damit zusammen, dass einem an so einem Transitort normalerweise wirklich niemand zuhört. Alles ist schnell und hektisch und auch ein wenig der Realität enthoben. Man sagt ja nicht umsonst Nicht-Ort zu Raststätten. Es gibt keine richtige Verbindung zum realen Leben außer die Autobahn. Und so trauten sich viele auch relativ schnell intim von sich zu erzählen. Zur letzten Frage: das war mal schwerer, mal weniger schwer. Im Schnitt hatten wir relativ lange Zeit noch zwei weitere Charaktere zusätzlich zu denen, die jetzt im Film sind. Sie fanden immer wieder in den Film, am Ende fielen sie der Dramaturgie wegen doch raus. Beim Rest war es relativ schnell klar, wen wir erzählen wollten.

Wie viele Stunden Material hattet ihr und wie lange hat der Schnitt und Postproduktion noch an Zeit gekostet? Habt ihr mit den Gedanken gespielt einen längeren Film zu realisieren?

Janina Kaltenböck und ich hatten ca. 40 Stunden Material, was für einen beobachtenden Dokumentarfilm tatsächlich überschaubar ist. Wir haben im Hochsommer bei 40 Grad ohne Klimaanlage ca. fünf Monate geschnitten. Das geht eben auch nur mit einem extrem vertrauensvollen Verhältnis. Ich glaube wir sind ziemlich gute Freunde geworden. Eine Länge haben wir uns nicht vorgenommen. Glücklicherweise gibt es da von Seiten der Filmakademie im dritten Studienjahr keine Vorgaben. So konnte sich der Film so frei entfalten, wie es notwendig war. Aufwendig war auch noch die Post-Produktion im Sound. Das hat unsere Sounddesigner Moritz Drath, Lena Beck und Chiara Haurand noch mal mehrere Monate gekostet. Schließlich hatten wir sehr genaue Vorstellungen, wie der Ort der Raststätte klinge sollte. Die Autobahn sollte kommen und gehen, je nachdem wie intim ein Gespräch wurde, so man auch als Zuschauer immer wieder ein- und auftaucht.

Beim Sehen fallen die unterschiedlichen Herangehensweisen auf – manche beobachtest Du vor allem und bei anderen wählst Du einen intimeren Ansatz. Entstand das immer situationsbezogen?

Wie schon beschrieben war unser Motto: unsere Begegnungen sind wie eine Motte die zum Licht fliegt, also im Positiven. Und dann verschwindet sie wieder in der Dunkelheit. Wir haben uns da ganz den Protagonisten hingegeben und ihnen so viel Raum gegeben wie möglich. Manchmal sind Begegnungen auch ins Leere gelaufen, aber das ist eben das Risiko bei Direct Cinema. Der Film sollte dann später möglichst authentisch unsere eigene Suche wieder geben. Und so sind manche Begegnungen eben intimer, manche mehr von Fragen bestimmt, manche von faszinierten Beobachtungen.

Hast Du in Betracht gezogen, Dich noch mehr aus der Geschichte selbst herauszunehmen, in dem man Deine Stimme und Fragen nicht hört?

Eigentlich nicht. Es war immer klar, dass wir als Filmteam in irgendeiner Form vorkommen müssen. Schließlich erzählt der Film ja auch unsere Suche. Es gab ganz im Gegenteil die Idee den Wohnwagen, der ja auch im Film immer wieder vorkommt, zu nutzen, um uns noch mehr zu thematisieren. Also Gespräche zwischen uns darunter zu schneiden oder einen Off-Kommentar, wo ich von meinen Gedanken, die ich während unserer Zeit auf der Raststätte notiert habe, erzähle. Doch im Schnitt stellte sich schnell heraus, dass es viel interessanter ist, den Wohnwagen als Denkraum für den Zuschauer zu sehen, in dessen Ruhe das Publikum reflektieren kann und Zeit hat sich auf die Atmosphäre der Raststätte einzulassen.

Klein, aber fein ist auch der Statement zur Flüchtlingskrise. Dass sich das Gespräch in diese Richtung entwickelt, hat Dich das selber überrascht?

Ehrlich gesagt, ich hatte es schon vermutet. Ich hatte schon einige Tage die Gelegenheit Jürgen auch bei Tag zu beobachten. Er trainierte mit den jugendlichen Teilnehmern seines Survivaltrainings auf ziemlich heftige Weise: er ließ sie zum Beispiel Steine schleppen und machte Kampfübungen mit ihnen. Da ich in meinem vorhergehenden Film „Überleben“ schon mit einem Prepper vier Tage in einem Bunker verbracht hatte, kannte ich die Outdoor- und Prepper-Szene schon ziemlich gut. Dass der O-Ton dann schließlich im Film gelandet ist, war eine ausufernde Diskussion im Schnittraum, aber ich finde, man hätte ihn ohne dieses Statement als Protagonisten gar nicht darstellen dürfen. Denn das hätte ein verklärendes Bild ergeben. Und schlussendlich ist auch er Teil einer deutschen Realität, die existiert, gezeigt und diskutiert werden muss.

Gibt es Vorbilder – alle Art von Künste – welche Dich stilistisch für den Film beeinflusst haben oder waren die meisten Aufnahmen vor allem spontaner Natur?

Oh ja, wir haben als Team gemeinsam viele Bilder von Edward Hopper studiert. Den Versuch, Hoppers Interpretation der Nacht filmisch einzufangen, gab es in der Filmgeschichte ja schon öfter. Unser Ansatz war aber eben hinter die verwaschenen Gesichter zu kommen, die bei Hopper immer Stereotype bleiben. Wir wollten also Bilder im Stil von Hopper erschaffen und trotzdem nah an den Menschen sein.

Wird Dein Film noch weiteren Festivals laufen und auf anderen Plattformen zu sehen sein?

Wir reichen auf jeden Fall weiter auf Festivals ein und hoffen auf positive Resonanz. Eine Weltpremiere mit zweimal vollen Kinos auf der DOK Leipzig zu haben und auf so viel Interesse und tolle Q&As zu stoßen, war auf jeden Fall schon ein großes Geschenk für uns. Und das trotz dieser ungewöhnlichen Länge von 57 Minuten.

Kannst Du mir noch ein bisschen mehr über Dich selbst und Deine Tätigkeit als Filmemacher erzählen und welche weitere Projekte geplant sind?

Ich komme aus einem konservativen Elternhaus, bin in einer typischen Vorstadt groß geworden. Das bringt auch mit sich, mit vielen Vorurteilen und Klischees aufzuwachsen und auch mit Ängsten. Ich nutze, denke ich, das Filmemachen um diese Klischees zu überwinden. Ich gehe dazu gern in gesellschaftliche Randbereiche und beschäftige mich gern mit gesellschaftlichen Ängsten und deren Ursachen. Ich habe vor „Nachtwanderer“ zum Beispiel mit einem Prepper in einem Bunker gelebt und davor in „Die Beschützer“ drei Menschen bei der Security-Ausbildung begleitet. Darüber hinaus habe ich immer das Gefühl mich komplett ausliefern zu müssen. Ich will wirklich spüren, auch physisch, was an den Orten und in den Menschen passiert, die ich filme. Auch in meinem Diplomfilm an der Filmakademie, den ich aktuell drehe, ist das so. Der Film heißt „A portrait on the search for Hainess“ und spielt in einem kleinen Dorf am Rande der Wüste von Südafrika, wo die reinsten Diamanten der Welt gefunden werden. 200 Tage im Jahr wabert dort der Nebel im Dorf. Gerade ist ein neuer Diamantrausch ausgebrochen und die native schwarze Bevölkerung hat eine Diamantmine besetzt. Das ging los mit ungefähr 50 Leuten. Mittlerweile graben dort Tag und Nacht über 3000 Menschen Seite an Seite – vom Bürgermeister bis zum Gangmitglied – bei 43 Grad, zwischen Sandsturm und Nebel, Drogenwahn und politischen Aktivismus – denn es ist das erste Mal seit 70 Jahren, dass sich die native Bevölkerung das Land einer Mine zurückholt. Der Film ist zum Glück finanziert von MFG [MFG Filmförderung Baden-Württemberg] und SWR [Südwestdeutscher Rundfunk] und soll dann kommendes Jahr fertig werden und dann in den Kinos starten.

Die Fragen stellte Doreen Matthei

Lies auch die Rezension zum Langfilm „Nachtwanderer“ und den Bericht zum DOK Leipzig

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