Sieben Fragen an Lenny Heller

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Interview: Im Gespräch mit dem Regisseur Lenny Heller konnten wir mehr über seinen Kurzfilm „Bettys“ erfahren, der im Rahmen des ‚Atelier Ludwigsburg-Paris „Parallelwelten“‘ auf dem 44. Filmfestival Max Ophüls Preis 2023 zu sehen war, erfahren, wie es zu der Geschichte nach einem Drehbuch von Isabelle Caps-Kuhn kam, und wie wichtig die damalige Zeit für die Realisierung des Stoffes war.

Wie kam es zu der Idee für „Bettys“? Warum hast Du Dich für eine Geschichte entschieden, die im Jahr 2000 spielt? 

Unsere Drehbuchautorin Isabelle Caps-Kuhn hat als Jugendliche ihre Freizeit gerne auf dem Skateplatz verbracht, und zwar nicht als Skaterin, sondern auf einer Bank am Rand. Sie war Teil einer Gruppe von Mädchen, die Eistee trank, Musik hörte und den Jungs zuschaute. Keine von ihnen hat hinterfragt, warum sie nicht selbst auf einem Skateboard stand. Es gab eine klare Rollenverteilung: Die Jungs skaten, die Mädchen schauten zu. Sie waren „Bettys“.

Der Begriff stammt aus den USA und eine Theorie zur Herkunft führt auf „Die Flintstones“ zurück. Dort gibt es eine Frau namens „Betty Rubble“, die sich nur an andere Charaktere dranhängt, selbst aber keine Entscheidungen trifft. Es wird vermutet, dass die Mädchen am Skateplatz deshalb als Bettys bezeichnet wurden, weil sie sich nur an die skatenden Jungs drangehängt haben, um „cool“ zu sein, eben wie Betty aus den Flintstones.

Isabelle hat mit ihrem Drehbuch die vermeintlichen Randfiguren in den Mittelpunkt geholt und die Frage aufgeworfen, was passiert, wenn etablierte Rollenverteilungen auf den Kopf gestellt werden. Denn zum ersten Mal sieht unsere Protagonistin Lily einen weiblichen Skater. So etwas gibt es? Schlagartig steht sie im Konflikt, nicht nur mit der Skaterin, sondern vor allem auch mit sich selbst, weil sie sich fragen muss: Warum skaten nur die Jungs? Warum stehe ich nicht auf einem Skateboard? Muss ich das als Frau? Was ist, wenn ich das überhaupt nicht will? Darf ich auch als Betty zufrieden sein?

Lily weiß nicht, ob es okay ist, wer sie ist. Sie fragt sich, ob sie sich anpassen muss, und wenn ja für wen. Diesen Konflikt haben wir als sehr spannende Perspektive auf die aktuelle Debatte in unserer Gesellschaft gesehen, in der es um Akzeptanz von Identitäten, Ambivalenzen und Vielseitigkeit geht. Die Frage nach dem eigenen Ich, die sich Lily vor 20 Jahren auf dem Skateplatz gestellt hat, ist so aktuell wie nie zuvor. Wäre sie es nicht, dann hätten wir den Film so auch nicht im Jahr 2000 erzählt. Im Team waren wir uns einig, dass eine Zeitreise nur Sinn ergibt, wenn wir damit Themen aus der heutigen Zeit ansprechen können.

Du hast den Film während Deines Studiums an der Filmakademie Baden-Württemberg umgesetzt – was war der Rahmen der Realisierung?

Mira Müller, Christopher Smith, Ilias Leon Karamichailidis und Marc Weber

In diesem Fall war das Projekt nicht unmittelbar Teil meines Studiums, sondern fand im Rahmen des Atelier Ludwigsburg-Paris statt. Dabei handelt es sich um ein einjähriges Fortbildungsprogramm für europäische und internationale Produzent:innen, die am Ende jeweils zu zweit einen Kurzfilm produzieren. So entstehen jedes Jahr sechs Projekte, von denen die Hälfte in Paris an der La Femis gedreht werden und die anderen bei uns an der Filmakademie in Ludwigsburg. Die Produzent:innen von „Bettys“, Ivet Castelo und Valérie Karbjinski, haben das Projekt zusammen mit Isabelle entwickelt und anschließend an der Filmakademie vorgestellt. Ich habe mich auf die Regie beworben und durfte nach ein paar Gesprächen erfreulicherweise dazu stoßen.

Anders als im herkömmlichen Studienverlauf an der Filmakademie gibt es bei den Atelier-Projekten strenge Vorgaben, die für alle Teams identisch sind: Ein festes Budget, fünf Drehtage, Locations nur im unmittelbaren Umkreis von Ludwigsburg und eine exakte Laufzeit von acht Minuten. Nichts davon ist flexibel, wenn also unser Film im Schnittraum zu lang gewesen wäre, hätten wir kürzen müssen. Auch der Drehzeitraum war vorgegeben und wir haben die Tage vor dem Dreh regelmäßig den Wetterbericht abgerufen und gehofft, dass uns der Regen verschont. Am Ende hatten wir Glück und mussten nur an einem Tag für eine halbe Stunde einen Schauer abwarten.

Was lag Dir visuell am Herzen? Wie schwer war es das Zeitkolorit einzufangen?

Hedda Erlebach, Aja Visarius und Cristina Maria Zegermacher

Auf dem Skateplatz geht es darum, zu beobachten und beobachtet zu werden — vor allem, wenn man fünfzehn Jahre alt ist. Und da es sich um die Geschichte von Lily handelt, haben Michael Throne (Bildgestaltung) und ich uns dazu entschieden, alles aus ihrer Perspektive zu erzählen. Wenn also Lily von der Quarter-Pipe auf die Jungs hinunterschaut, dann sind wir bei ihr oben und blicken selbst hinunter. Oder wenn Lily in die Ferne schaut, um die fremde Skaterin Nikki zu beobachten, dann schauen auch wir über die Distanz hinweg in die Ferne. Visuell verlassen wir nie den Radius von Lily. Wir bewegen uns immer um sie herum, replizieren ihre Blicke und fangen sie auf. Was Lily sieht, sehen wir auch. Was abseits davon passiert, bekommen wir auch nicht mit.

Im Schnitt haben wir dann jeden Blick überprüft. Hanna Hofstätter (Montage) hat nur geschnitten, wenn Lily woanders hinschaut oder ihre Aufmerksamkeit umschwenkt. Andernfalls sind wir bei ihr geblieben. Lily hat so gesehen sowohl die Kamera als auch den Schnitt vorgegeben.

Bezüglich der historischen Darstellung haben wir uns entschieden, das Jahr 2000 beiläufig zu erzählen. Hier ein älteres Plakat, dort ein Auto mit klassischem Kennzeichen. Aber nichts, wo fett und groß ein Pfeil drauf zeigt und schreit „Schaut mal hier, das war 2000!“. Wir wollten vermeiden, dass die abgebildete Zeit zum Nostalgietrip wird und von der eigentlichen Handlung ablenkt. So viel 2000 wie nötig, so wenig 2000 wie möglich.

Die Wahl der Darsteller:innen ist sehr gut gelungen – was lag Dir beim Casting am Herzen?

Hedda Erlebach

Vielen Dank, das freut uns sehr. Uns war vor allem wichtig, dass wir das Skaten authentisch darstellen. Wir wollten nicht tricksen oder drum herum schneiden müssen, sondern glaubhaft erzählen, dass die fremde Skaterin Nikki ihr Board und das Skaten liebt. Anfangs haben wir klassisch die Schauspielagenturen durchgeschaut und Darstellerinnen angefragt, die schon mal auf einem Skateboard standen. Allerdings haben wir schnell gemerkt, dass die rudimentären Erfahrungen nicht ausreichten, um die vom Drehbuch geforderten Tricks umzusetzen. Auch wenn es leicht aussieht – von einer Quarter-Pipe zu fahren oder einen Kickflip zu machen, das erfordert viel Übung.

Also haben wir die Suche umgekrempelt und nach Skaterinnen geschaut, die Zeit und Lust hatten, in unserem Film mitzuspielen. Anfangs gab es viel Ablehnung, die uns auf Nachfrage damit begründet wurde, dass die Skate-Kultur viel zu oft von Filmen falsch dargestellt würde. Ein Grund mehr für uns, die Kickflips vernünftig zu erzählen.

Mit Mira wurden wir schließlich fündig. Valérie und Ivet haben sie über Instagram gefunden und obwohl sie noch nie als Darstellerin vor der Kamera stand, hatte sie Lust, es auszuprobieren. Sehr mutig und bewundernswert, wie ich finde. Hier war mir sehr wichtig, dass Mira sich zu nichts verpflichtet fühlt. Auch wenn im Drehbuch bestimmte Tricks aufgeführt waren, wollte ich, dass sie uns das bietet, wozu sie sich selbst in der Lage sieht und ganz klar sagt, was sie schafft und wo sie Grenzen zieht. Skaten kann gefährlich sein und kein Film der Welt ist es wert, sich zu verletzen.

Ich finde es wichtig, ein sicheres Umfeld zu schaffen, in dem sich die jungen, teils unerfahrenen Darstellenden wohl fühlen. Das begann bereits beim Casting, wo ich immer betont habe, dass in beide Richtungen gecastet wird. Es soll nicht nur darum gehen, ob wir mit ihnen arbeiten möchten, sondern auch, ob sie sich mit uns wohl fühlen.

Könntest Du Dir vorstellen, in diese Zeit nochmal einzutauchen und vielleicht sogar mit denselben Figuren?

Absolut. Die Zeitreise hat mir unfassbar viel Spaß bereitet, mitunter auch, weil ich in den 90ern aufgewachsen bin und eine permanente Nostalgie verspürt habe. Aber auch die Figuren (samt ihrer Darsteller:innen) sind mir ans Herz gewachsen und wenn es eine weitere erzählenswerte Geschichte über sie gäbe, würde ich sofort Ja sagen. Am Set haben wir hoffnungsvoll gewitzelt, dass bald der Kinofilm kommt.

Kannst Du mir am Schluss noch ein bisschen mehr über Dich erzählen und wie Du zum Film gekommen bist?

Hedda Erlebach, Aja Visarius und Cristina Maria Zegermacher

Oh je, ich glaube, das ist eine sehr unspektakuläre Geschichte. Wie so viele war ich als Kind begeistert von Filmen und wollte unbedingt selbst welche machen. Meine Eltern konnten sich leider keine Videokamera leisten, also habe ich mir einfach nur die Konzepte ausgedacht und vorgestellt, wie es wohl wäre, die Geschichten zu visualisieren. Ab und an habe ich mir dafür den Fotoapparat meines Vaters geschnappt und so getan, als ob ich damit aufnehme.

Nach der Schule habe ich mich an verschiedenen Filmhochschulen beworben, die mich alle abgelehnt haben. Also zog ich (etwas gekränkt) nach Mainz, um Filmwissenschaft zu studieren. Anfangs wollte ich das gar nicht, weil das Studium nur aus Theorie bestand. Aber glücklicherweise habe ich eine ganze Reihe toller Menschen kennengelernt, mit denen ich mehrere Kurzfilme drehen durfte. Wir hatten zwar kein Geld, null Ahnung und nur drei Lampen, aber das war uns egal. Mit einem der Filme habe ich es dann noch mal an der Filmakademie probiert – und wurde angenommen.

Sind bereits neue Filme geplant?

Zurzeit arbeite ich an meinem Abschlussprojekt, das wir in ein paar Monaten drehen werden. Was danach kommt, weiß ich noch nicht genau, schaue der Zukunft aber sehr optimistisch entgegen.

Die Fragen stellte Doreen Kaltenecker

Lies auch die Rezension des Kurzfilms „Bettys

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