Sechs Fragen an Gabrielle Demers

Doreen Kaltenecker
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Interview: Im Gespräch mit der kanadischen Regisseurin Gabrielle Demers konnten wir mehr über ihren Kurzfilm „Blond Night“ (OT: „Nuit Blonde“), der auf dem 23. Landshuter Kurzfilmfestival 2023 im Internationalen Wettbewerb lief, erfahren, wie der Hauptdarsteller den Impuls für den Film lieferte und warum danach kein Casting mehr notwendig war.

The original english language interview is also available.

Wie kam es zu der Geschichte über den Autisten und den Prostituierten?

Ich habe diesen Film geschrieben, als ich in einem Secondhand-Laden arbeitete, wo ich Patrick kennenlernte, einen autistischen Mann, der Filme sehr mag. Wir arbeiten seit drei Jahren zusammen. Wir wurden Freunde, indem wir über die Filme von Xavier Dolan und Eddie Murphy sprachen. Damals erzählte mir Patrick, dass es sein Traum sei, in einem Film mitzuspielen, also schrieb ich eine Figur für ihn, Victor in „Blond Night“. Was mich an Patrick am meisten berührt hat, ist die Art und Weise, wie er trotz der Tatsache, dass er sehr kontrolliert ist, frei sein kann.

Deshalb war es für mich sehr wichtig, die Figur des Victor als jemanden darzustellen, der seinen eigenen Geschmack hat und gerne seine eigenen Entscheidungen trifft. Für mich ist das Faszinierendste an dem Film, wie Spannungen mit unseren eigenen Vorurteilen über Sexarbeiter und Autisten aufgebaut werden.

Ich mochte die visuelle Inszenierung sehr gern – sie wirkte zeitlos. Was lag Dir visuell am Herzen?

Blond Night“ ist ein bisschen wie die Enthüllung der Geheimnisse der Nacht. Mit Chloé Ellegé, der Kamerafrau des Films, wollten wir dem Betrachter einen sehr starken Eindruck von der Realität vermitteln und gleichzeitig die Figuren zum Strahlen bringen. Die gesamte visuelle Gestaltung des Films wurde auch sorgfältig durchdacht, um das Spiel meines neuroatypischen Schauspielers hervorzuheben. Um Schnittfehler zu vermeiden, wurden alle Szenen nacheinander gedreht. Hinzu kamen die Beschränkungen durch die damals recht strengen Covid-Maßnahmen. Wir durften pro Tag nur 15 Minuten Nähe zwischen den Schauspielern zulassen, was auch die Entscheidung erklärt, den Figuren in Nahaufnahmen zu folgen, um über die Entfernungen zu täuschen.

Dein Cast trägt so wunderbar den Film. Kannst Du mir mehr zum Auswahlprozess erzählen und auf was du dabei Wert gelegt hast?

Da der Film für Patrick geschrieben wurde, war es für mich das Wichtigste, einen anderen Schauspieler zu finden, mit dem Patrick leicht eine große Komplizenschaft entwickeln konnte. Ich habe mich in Dany Boudreault verliebt, als ich ihn im Theater sah. Er war die einzige Person, die wir für die Rolle des Jessy angesprochen haben. Wir haben kein Vorsprechen gemacht, sondern ein Treffen zwischen Patrick und ihm organisiert. Dieses Treffen war außergewöhnlich, Dany behandelte Patrick wie einen professionellen Schauspieler, was ihm viel Selbstvertrauen gab. Die Komplizenschaft zwischen den beiden war schnell hergestellt und gab dem Film seinen Zauber.

Die Figuren fand ich so spannend, dass ich gern mehr davon sehen würde. Könntest Du Dir vorstellen, ihre Geschichte weiterzuerzählen?

Ich kann verstehen, was du meinst, aber für mich liegt die Schönheit von „Blond Night“ in der Idee der flüchtigen Begegnung, dieses kurzen Austauschs zwischen zwei marginalisierten Fremden, die, wenn sie sich treffen, ohne Urteil füreinander sind. In gewisser Weise offenbart sich die Menschlichkeit des Films im Ungesagten. Es ist seltsam zu sagen, aber ich habe den Eindruck, dass wir etwas von der Essenz von „Blond Night“ verlieren würden, wenn wir versuchen würden, den Film länger zu machen.

Kannst Du mir noch ein bisschen mehr von Dir erzählen und wie Du zum Film gekommen bist.

Dany Boudreault

Ich stamme aus Lévis, einer kleinen Stadt in den Vororten von Quebec City, wo ich ein duales Hochschulstudium der Bildenden Künste und des Kinos absolvierte. Damals war der Zugang zum Autorenkino nicht so einfach wie heute, es gab keine Streaming-Plattformen und das örtliche Kino zeigte nur Blockbuster, die mich nicht interessierten. Meine ersten cinephilen Momente hatte ich mit dem Quebecer Fernsehsender ARTV, der Filme von Gregg Araki, Catherine Breillat, Larry Clark usw. zeigte. Diese radikaleren Kinoangebote hatten eine große Wirkung auf mich, wie ein Punkt, an dem es kein Zurück mehr gab. Ich würde sagen, dass es diese wachsende Cinéphilie war, die mich dazu brachte, selbst Filme zu machen.

Sind bereits neue Projekte geplant?

Derzeit arbeite ich an der Verfilmung des Romans „Querelle de Roberval“ von Kevin Lambert. Dieses Projekt ist für mich etwas ganz Besonderes und wird mein erster Spielfilm sein.

Die Fragen stellte Doreen Kaltenecker
Übersetzung von Michael Kaltenecker

Lies auch die Rezension des Kurzfilms „Blond Night


Interview: In our conversation with Canadian director Gabrielle Demers, we were able to learn more about her short film “Blond Night” (OT: “Nuit Blonde”), which screened in the International Competition at the 23rd Landshut Short Film Festival 2023, how the lead actor provided the impetus for the film and why casting was no longer necessary afterwards.

How did the story about the autistic man and the prostitute come about?

I wrote this film when I was working in a thrift store where I met Patrick, an autistic man who really likes movies. We have been working together for 3 years. And I like to say that we became friends by talking about Xavier Dolan and Eddy Murphy’s movies. At that time, Patrick told me it was his dream to play in a movie so I wrote a character for him, Victor in “Blond Night“. The thing that touched me the most about Patrick, is the way he is able to be free despite the fact that he is very supervised.

This is why it was very important for me to present the character of Victor as someone who has his own taste and likes to make his own choices and decisions. For me, the most fascinating thing about the film is how tensions are built with our own preconceptions about sex workers and autistic people.

I really liked the visual style – it seemed timeless. What did you care about visually?

Blond Night” is a bit like revealing the secrets of the night. With Chloé Ellegé, the film’s director of photography, we wanted to give the viewer a very strong impression of reality as well as giving the characters an incandescence. All the visuals of the film were also carefully thought out to highlight the acting of my neuroatypical actor. In order to avoid splicing errors, all the scenes were shot in sequence. There were also the restrictions of the covid measures which were quite severe at the time. We were allowed 15 minutes of proximity between the actors per day which also explains the choice of following the characters in close-ups to cheat the distances.

Your cast carries the film so beautifully. Can you tell me more about the casting process and what you were looking for?

Because the film was written for Patrick, the most important thing for me was to find another actor with whom Patrick could easily develop a great complicity. I fell in love with Dany Boudreault when I saw him in the theater. He was the only person we approached for the role of Jessy. We didn’t do an audition, instead we organized a meeting between Patrick and him. This meeting was extraordinary, Dany treated Patrick like a professional actor which gave him a lot of self-esteem. The complicity between them was quickly established and gave all the magic to the film.

I found the characters so intriguing that I would love to see more of them. Could you imagine continuing to tell their story?

I can understand what you mean but for me, the beauty of “Blond Night” is the idea of the ephemeral encounter, of this short exchange between two marginalized strangers who, when they meet, are without judgment for each other. In a way, the humanity of the film is revealed in the unsaid. It’s strange to say, but I have the impression that we would lose something of the essence of Nuit Blonde by trying to make the film longer. 

Can you tell me a bit more about yourself and how you came to film?

I am from Lévis, a small town in the suburbs of Quebec City where I followed a bi-disciplinary college education in visual arts and cinema. At the time, access to auteur cinema was not as easy as now, there was no streaming platform and the local movie theater was only programming blockbusters which did not interest me. My first moments as a cinephile were coming from the Quebec TV channel ARTV, which was programming films by Gregg Araki, Catherine Breillat, Larry Clark… These more radical cinema proposals had a huge effect on me, like a point of no return. I would say that it was this growing cinéphilie that pushed me to make films myself.

Are there any new projects already planned?

I am currently working on the adaptation of the novel “Querelle de Roberval” by Kevin Lambert. This project is very special to me and will be my first feature film.

Questions asked by Doreen Kaltenecker

Read on the german review of the short film “Blond Night

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