Studium der Kunstgeschichte - Schwerpunkt: Filmgeschichte (Abschluss 2010 mit der Arbeit "Rembrandt im Spielfilm") Nebenfächer: Philosophie und Alte Geschichte
- seit 2012: Filmkritikerin bei movieworlds (Kino, DVD, BD, Festivalberichte)
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Filmkritik: Der tschechische Dokumentarfilm „A New Shift“ (OT: „Nová šichta“, Tschechische Republik, 2020) von Jindřich Andrš, der auf dem 63. DOK Leipzig seine Internationale Premiere feierte, erzählt eine ganz universelle Geschichte vom Verlust der Arbeit und den Unsicherheiten der Zukunft, in dem er ein gelungenes Portrait eines einzelnen Mannes zeichnet.
Der 44-jährige Tomáš Hisem hat 21 Jahre lang in einer Mine gearbeitet, welche nun schließen musste. Mit ein paar anderen Kumpels entscheidet er sich, das Angebot der Regierung anzunehmen, sich zu einem IT-Facharbeiter umschulen zu lassen. Nach vier Monaten ist er frischgebackener Programmierer und auch ansonsten hat sich viel in seinem Leben geändert. Doch wie geht es nun weiter? Wer stellt einen ehemaligen Bergarbeiter als IT-Fachmann ein?
Als die Paskov-Mine in Ostrava nach über 50 Jahren Betrieb geschlossen wurde, rief die tschechische Regierung ein Programm mit dem Namen ‚Nová šichta‘ (engl. ‚A New Shift‘) ins Leben. Durch dieses sollte den unzähligen nun arbeitslosen Minenarbeiter eine neue Karriere ermöglicht werden. Als der tschechische Regisseur Jindřich Andrš (*1994), damals noch Student an der FAMU Prag, davon hörte, machte er sich auf und lernte dabei Tomáš Hisem kennen. Der Anfang des Films zeigt einen Ausschnitt aus dem letzten Tag in der Mine, für welche Tomáš Hisem die Kamera selbst in die Mine schleuste. Von diesem turbulenten Tag, an dem auch ein Unfall passierte, berichtet auch der Kurzfilm „The Last Shift of Tomáš Hisem“, der sozusagen als Nebenprodukt entstand. In dem Langfilm konzentriert sich der Regisseur auf die neuen Wege von Tomáš, doch mit dem Kurzfilm im Hinterkopf, kann man diese Veränderungen noch besser begreifen. Über zwei Jahre hinweg begleiteten Andrš und sein Team den 44-jährigen, welcher nicht nur eine neue Berufsausbildung absolvierte, sondern sich auch ganz neu erfand, samt Frisur und neuer Freundin. Dabei finden die Filmemacher einen respektvollen Umgang mit ihm und erzählen mit viel Offenheit von diesen großen Veränderungen. Tomáš steht dabei exemplarisch für viele Menschen, die ihren Job, welchen sie oft sehr lange ausgeübt haben, verlieren und auf einmal vor neuen Herausforderungen stehen und vor allem auch Enttäuschungen vor allem bei der Arbeitsplatzsuche erleben. Das trifft nicht nur auf die ehemaligen tschechischen Minenarbeiter zu, sondern auch u.a. auf die deutschen Kumpel aus dem Ruhrpott. So erzählt Andrš anhand eines Menschen eine große Geschichte. Er findet dafür die richtigen Filmaufnahmen, meist beobachtender Natur, welche dem Portraitierten genügend Raum geben, aber trotzdem nah an ihn herankommen. Der Film ist zutiefst menschlich und man schließt Tomáš schnell ins Herz, so dass man seinen Weg auch emotional begleitet. Dabei schafft Andrš es aber, den Film nie zu schwer werden zu lassen, sondern fängt das positive Gemüt Tomáš’ auf der Leinwand ein. So entstand ein rundum gelungener, ehrlicher Dokumentarfilm, der zu Recht Preise u.a. die Goldene Taube für den ‚Publikumspreis langer Dokumentar- und Animationsfilm‘ auf dem DOK Leipzig gewinnen konnte.
Fazit: „A New Shift“ ist der erste Lang-Dokumentarfilm des tschechischen Regisseurs Jindřich Andrš. Der Film erzählt die Umschulung eines ehemaligen Minenarbeiters zu einem IT-Fachmann. Dabei begleiten ihn der Filmemacher und sein Team über einen längeren Zeitraum und fangen alle Hoch und Tiefs auf diesem neuen Weg ein. Mit Tomáš Hisem haben sie einen sympathischen Protagonisten gefunden, welchen die ZuschauerInnen gerne auf seinem neuen Weg begleiten und der gleichzeitig symbolisch für viele Menschen steht. Mit klaren offenen Blick und einer respektvollen Annäherung schuf Andrš einen ansprechenden Film, der zurecht zu den Favoriten des diesjährigen Leipziger Dokumentarfilmfestival zählte.