Sieben Fragen an Antonin Niclass

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Interview: Im Gespräch mit dem schweizer Regisseur Antonin Niclass konnten wir mehr über seinen Kurzfilm „Do Not Feed The Pigeons“, der auf dem 38. Interfilm Berlin 2022 im Internationalen Wettbewerb lief, erfahren, über die Melancholie eines nächtlichen Busbahnhofs, den Mix aus 2D- und 3D-Animationen und warum Tauben so eine große Rolle spielen. 

The original english language interview is also available.

Die Ereignisse auf dieser nächtlichen Busstation wirken sehr authentisch. Wie kam es zu der Geschichte?

Ich habe mich schon immer dazu hingezogen gefühlt, Gefühle von Einsamkeit und Melancholie darzustellen. Ich habe diese Gefühle oft in verschiedenen Formen erlebt, wenn ich spät nachts von einer Stadt in eine andere reiste. Da ich in der Vergangenheit in verschiedenen Städten gelebt habe (Genf, Lausanne, Brüssel, London), war der Busbahnhof ein Ort, an dem ich viele Male war. Ich hatte das Gefühl, dass man dort die Zyklen der Pendler beobachten und die Einsamkeit der Reisenden darstellen kann, die auf einen Bus warten, der vielleicht nie ankommt. Zusammen mit Vladimir (Drehbuchautor) beschlossen wir, eine Nacht in der Victoria Coach Station zu verbringen. Nicht um zu reisen, sondern nur um Reisende zu beobachten. Wir steckten knietief in dieser Melancholie, konnten aber auch spüren, dass sich hinter den schmutzigen, traurigen Wänden des Bahnhofs eine Schönheit verbarg. Etwas, das sich nur dann offenbaren würde, wenn man der Hektik des Alltags entkommen konnte. Wir haben Fotos gemacht, Zeichnungen angefertigt und Geräusche aufgenommen. Die meisten Figuren sind direkt von unserer Nacht auf dem Busbahnhof inspiriert, und ich habe versucht, die Details in Bezug auf die Charakterisierung und die Emotionen zu berücksichtigen, auch wenn sie recht subtil sein können.

Warum spielen Tauben so eine wichtige Rolle?

Wir wollten von Anfang an eine Parallele zur Tierwelt ziehen. Uns gefiel die Idee, vom Kleinen ins Große zu gehen und wie diese Vergleiche uns helfen können, die Perspektive auf uns selbst zu ändern. Als wir den Busbahnhof als Drehort für unseren Film wählten, fanden wir es amüsant, überall Schilder mit der Aufschrift ‚Tauben nicht füttern‘ zu sehen. Diese Tauben, die normalerweise als widerliche fliegende Ratten betrachtet werden, könnten uns in Wirklichkeit etwas lehren. Wir wollten die Tauben als die Herren dieses Mikrokosmos darstellen.

In welchem Rahmen, über welche Zeit und mit welcher Teamstärke konntest Du Deinen Film realisieren?

Wir haben die ersten Scouting-Nächte im Januar 2020 in der Victoria Coach Station verbracht und den Film im März 2021 fertiggestellt, es hat also etwas mehr als ein Jahr gedauert. Ich glaube, wir haben das Set Ende Mai gebaut, im Juli mit den Dreharbeiten begonnen und fast bis Februar 2021 weiter animiert. Dann haben wir gleichzeitig geschnitten, gemischt und komponiert. Eigentlich sollten wir im Januar fertig werden, aber wir wurden durch zwei Lockdowns und Crew-Mitglieder auf der ganzen Welt ein wenig aufgehalten. Es ist eine große Crew (mehr als 40), aber sie haben nicht unbedingt gleichzeitig gearbeitet.

Kannst Du mir mehr zu Deinem Stil erzählen?

Ursprünglich war ich ein Stop-Frame-Animator. Während meines Studiums an der National Film and Television School entdeckte ich die 2D-Animation und hatte viel Spaß am Zeichnen, auch wenn ich noch nicht viel Erfahrung damit hatte. Meine Zeichnungen waren recht unvollkommen, aber ich fand es sehr aufregend und herausfordernd, diese Techniken zusammenzubringen: das Voluminöse eines Stop-Motion-Sets mit der Flächigkeit gezeichneter Figuren zu mischen. Ich habe viel experimentiert und versucht, das richtige Material und die richtige Textur dafür zu finden. Bei der Gestaltung des Bahnhofs haben wir darauf geachtet, dass alles aus dem Müll eines Busbahnhofs hergestellt werden kann. Unser Produktionsdesigner benutzte recyceltes Plastik, um Teile des Sets zu gestalten, und wir dachten, dass wir das Gleiche für unsere Figuren tun würden. Wir entschieden uns für eine Art Alufolie, die mit Leinwand bespannt war, um diese flachen, aber sehr strukturierten Figuren zum Leben zu erwecken. Die Herausforderung bestand dann darin, zu definieren, wie sich 2D-Puppen in einem 3D-Raum bewegen und verhalten würden, und die ständige Notwendigkeit, eine Lösung zu finden, hielt die Kreativität bis zum Ende aufrecht!

Ich habe gesehen, dass Du auch schon andere Formen von Animationen ausprobiert hast. Hast Du schon die eine bestimmte Art gefunden, in der Du am liebsten Deine Filme erzählst?

Mir gefällt die Idee, dass jeder Film seine eigene Technik hat, und das Experimentieren mit dem Material ist für mich Teil des Filmemachens. Obwohl ich es mag, Techniken zu mischen und 2D-Charaktere in einer 3D-Welt zu haben, werde ich das vielleicht nicht für meinen nächsten Film wieder verwenden!

Kannst Du mir noch ein bisschen mehr von Dir erzählen und wie Du zum Film gekommen bist?

Ich bin in Genf geboren. Ich fing an, mit Geschichten zu spielen, als mein Nachbar damals das Lego Studio bekam. Das war eine Partnerschaft zwischen Lego und Steven Spielberg, bei der man eine kleine Webcam und ein gedrucktes Set-Design bekam, um mit Spielzeug Kurzfilme zu drehen. Als ich 18 war, begann ich als Kameraassistent in der Schweiz zu arbeiten. Dadurch konnte ich viel über Kameras, Objektive und Licht lernen (was sich später als Animator als sehr nützlich erwies, da man nicht immer einen Kameramann am Set dabei hat). Ich beschloss, nach Belgien zu ziehen, um Filmemachen zu studieren, und lernte, als Regisseur mit großen Crews an Spielfilm-, Fernseh- und Radioprojekten zu arbeiten. Neben meinem Studium produzierte ich zahlreiche Animationsvideos für Tataki, den digitalen Zweig des Schweizer Fernsehens für junge Erwachsene. Durch die Zusammenarbeit mit vielen Animationskünstlern und das Mischen verschiedener Formen und Techniken habe ich viel gelernt und konnte so ein Portfolio erstellen, das interessant genug war, um mich an meiner Traumschule in Großbritannien zu bewerben. Ich besuchte 2019 die National Film & Television School und lernte viel, weil ich von talentierten 2D- und Stop-Motion-Animatoren umgeben war.

Sind bereits neue Projekte geplant?

Ja! Wir haben unser letztes VR-Projekt „Midnight Story“ veröffentlicht, eine Adaption von „Do Not Feed The Pigeons“. Wir bekamen eine Finanzierung, um eine Version des Films in virtueller Realität zu erstellen, und ich war wirklich begeistert von der Idee, den Zuschauer unseren Busbahnhof von innen erleben zu lassen. Es dauerte eine Weile, bis wir uns in diesem neuen Medium zurechtfanden, aber mir gefiel es, dass die Flachheit der Charaktere auch in einem virtuellen 3D-Set stattfinden konnte. Wir haben die Charaktere für die VR-Version umgestaltet und herausgefunden, wie wir die Augen des Zuschauers in die Erzählung hineinziehen können, ohne das traditionelle Schnittprogramm zu verwenden. Ich wollte, dass die Geschichte ohne ‚Schnitte‘ fließt, also mussten wir einen Weg finden, den Fokus von einer Figur zur nächsten zu bringen, indem wir Raum, Geräusche, Licht und… Tauben natürlich! Ich habe viel dabei gelernt und war begeistert, wieder mit demselben Team aus der Filmschule zu arbeiten, diesmal aber auf einer professionellen Ebene. Jetzt ist es an der Zeit, wieder mit dem Schreiben zu beginnen.

Die Fragen stellte Doreen Kaltenecker
Übersetzung von Michael Kaltenecker

Lies auch die Rezension des Kurzfilms „Do Not Feed The Pigeons


Interview: In our conversation with Swiss director Antonin Niclass, we were able to learn more about his short film “Do Not Feed The Pigeons“, which screened in the International Competition at the 38th Interfilm Berlin 2022, about the melancholy of a bus station at night, the mix of 2D and 3D animation and why pigeons play such a big role.

The events at that night bus station seem authentic. How did the story come about?

I have always been drawn towards portraying feelings of loneliness and melancholy. I would often witness these feelings in many forms whenever I traveled late at night from one city to another. Having lived in different cities in the past (Geneva, Lausanne, Brussels, London), the coach station was a place I experienced many times. I felt it was full of potential to observe the cycles of commuters taking place there, and depict the loneliness of travelers waiting for a coach that may never arrive. With Vladimir (screenwriter), we decided to spend one night in Victoria Coach Station. Not to travel but only to observe travelers. We were knee deep into this melancholy, but could also feel that a beauty was hidden beneath the dirty sad walls of the station. Something that would reveal itself only if you managed to escape the rush of everyday life. We took pictures, made drawings, recorded sounds. Most of the characters are directly inspired by our night at the coach station and I tried to care about the details in terms of characterisation and emotions even though they can be quite subtle.

Why do the pigeons play such an important role?

From the start, we wanted a parallel with the animal world. We liked the idea of going from small to big and how these comparisons could help us change perspective about ourselves. When we chose the coach station as a location for our film, we were amused by seeing ‘Do not to feed the pigeons’ signs everywhere. These pigeons, usually considered as disgusting flying rats, may in fact be the ones who could teach us something here. We wanted to portray the pigeons as the lords of this microcosm.

In what framework, over what time and with what team size were you able to realize your film?

We spent the first scouting nights in Victoria Coach Station in January 2020 and we finished the film in March 2021, so it took a bit more than a year. I think we built the set at the end of May, started shooting in July and continued animating almost until February 2021. We were then editing, mixing and composing at the same time. We were supposed to finish it in January but we got a bit delayed by two lockdowns and crew members across the world. It’s a big crew (more than 40) but they were not necessarily working at the same time.

Can you tell me more about your style?

Being originally a stop frame animator, I discovered 2D animation during my curriculum at the National Film and Television School and enjoyed drawing a lot, even though I didn’t have much experience with it. My drawings were quite rough but I found it very exciting and challenging to bring these techniques together : mixing the volumes of a stop-motion set with the flatness of drawn characters. I experimented a lot, trying to find the right material and texture to do so. We created the station bearing in mind that everything could be made of trash found in a coach station. Our production designer used recycled plastic to create parts of the set and we thought we would do the same for our characters. We settled for some kind of aluminum foil covered with canvas to bring these flat yet very textured characters to life. The challenge was then to define how 2D puppets would move and behave in a 3D space and the constant need to find a solution kept the creativity going until the end!

I saw you already tried out other forms of animation. Have you already found the one particular style in which you prefer to tell your films?

I like the idea that every film has its own technique and experimenting with material is part of the filmmaking process for me. Although I quite like mixing techniques and having 2D characters in a 3D world, I might not use it again for my next film!

Can you tell me a bit more about yourself and how you got into film?

Of course, so… I was born in Geneva. I started out playing with stories when my neighbor back then received the Lego Studio. It was a partnership between Lego and Steven Spielberg where you would get a small webcam and printed set design to make short films with toys. When I was 18, I started working as a camera assistant in Switzerland. It allowed him to learn a lot on cameras, lenses and lights (which became very useful afterwards as an animator because you don’t always have a DOP on set with you). I decided to move to Belgium to study filmmaking and learned to work as a Director with large crews on fiction, television and radio projects. Besides my studies, I produced numerous animation videos for Tataki, the digital branch of Swiss Television for young adults. I learned a lot by working with many animators, mixing various forms and techniques and this allowed me to create a portfolio interesting enough to enter my dream school in the UK. I joined the National Film & Television School in 2019 and learned a lot from being surrounded by talented 2D and stop motion animators.

Are there any new projects planned?

Yes! We released our last VR piece “Midnight Story”, adapted from “Do Not Feed The Pigeons“. We got some funding to create a version of the film in virtual reality and I got really excited by the idea to get the viewer to experience our coach station from the inside. It took quite a while to find our way around this new medium but I liked that the flatness of the characters could still take place in a virtual 3D set. We repurposed the characters for the VR version and we found how to drive the viewer’s eyes into the narrative without the traditional editing tool. I wanted the story to be flowing without ‘cuts’ so we had to find the way to bring the focus from one character to the next using space, sounds, light and… pigeons of course! I learned a lot from it and was excited to work again with the same team from school but on a more professional level this time. Now it’s time to go back to writing again.

Questions asked by Doreen Kaltenecker

Read on the german review of the short film “Do Not Feed The Pigeons

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