Sieben Fragen an Francisco Lezama

Doreen Kaltenecker
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Ali Ghandtschi

Interview: Im Gespräch mit dem argentinischen Regisseur Francisco Lezama konnten wir mehr über seinen Kurzfilm „An Odd Turn“ (OT: „Un movimiento extraño“) erfahren, der auf der 74. Berlinale 2024 in der Sektion ‚Berlinale Shorts‘ den Goldenen Bären für den ‚Besten Kurzfilm‘ erhielt, wie die Ideen für seine Geschichte zusammenfinden, wie auch er beim Schreiben bereits die Schauspieler:innen im Blick hat und ob er sich als visuellen Regisseur sieht.

The original english language interview is also available.

Wie ist die Idee zu Deinem Film entstanden und wie kam die Liebe für Dollars mit der Liebesgeschichte zusammen?

In meinem speziellen Fall kommen die Ideen nie nur von einem Ort. Mehrere Jahre lang habe ich eine nicht-traditionelle Schreibmethode entwickelt. Bei dieser Methode schreibe ich über einen längeren Zeitraum hinweg Karten mit Ideen. Diese Karten drehen sich normalerweise um ein bestimmtes Thema (im Fall von „Un movimiento extraño“ um die argentinische Wirtschaftskrise und die Dollarisierung). Sobald ich viele Karten gesammelt habe, wähle ich die besten Ideen aus, und von da an gleicht das Schreiben des Drehbuchs eher einem Jonglieren, um sicherzustellen, dass keine Idee verloren geht, so dass keine Idee in dem kurzen oder mittellangen Film, den ich vorhabe, ausgelassen wird. Plötzlich dreht sich eine Karte um Sex und Kapitalismus, eine andere um Währungskrisen, eine weitere um die Fantasien eines Mädchens, das glaubt, eine Liebesgeschichte zu leben, die nur in ihrem Kopf existiert.

Kannst Du mir zu den Bedingungen erzählen, wie Du den Film realisiert hast. Wie lange habt ihr gedreht? Wie groß war euer Team?

Der Kurzfilm wurde in zwei Phasen gedreht: vor der Pandemie und nach der Pandemie. Es war ein sehr schwieriger Prozess, und ich hätte das Filmmaterial fast ad acta gelegt. Die Pandemie hat die Stimmung in den Stadtvierteln, in denen ich den Kurzfilm 2019 zu drehen begann, völlig verändert. Eine ganz bestimmte Kultur wurde dort zerstört (la cultura Porteña de Lavalle y Florida). Um an solch belebten Orten vor der Pandemie drehen zu können, musste die Crew notwendigerweise klein sein. Wir opferten die Beleuchtungsausrüstung und die Menge der Ausrüstung, um alles beweglicher zu machen (fast im Dokumentarstil). Durch diese Reduzierung der Crew konnten wir mehr Tage filmen. Ich glaube, wir haben den Kurzfilm anfangs in zwölf Tagen und nach der Pandemie in drei Tagen gedreht.

Der Film spielt an vielen verschiedenen Orten – im Museum und auf der Straße. Wie verliefen die Drehs dort?

Wir haben viel daran gearbeitet, das Gefühl zu vermitteln, dass die Protagonisten (Laila Maltz und Paco Gorriz) dazu verdammt sind, sich im frenetischen Rhythmus des steigenden Wertes des Dollars zu bewegen oder zu tanzen.

Was lag Dir visuell am Herzen?

Obwohl ich mich nicht als ‚visuellen‘ Regisseur betrachte, glaube ich, dass ich meinen eigenen ästhetischen Kompass habe, wenn es um die Regiearbeit geht. Ich bin daran interessiert, dass das Bild kompakt, prägnant, aber auch lebendig ist. Das ist etwas Metaphysisches, das ich eher erahne oder fühle als darüber nachzudenken, aber ich glaube, die Arbeit des Regisseurs ist wie die eines Kochs, der Flan zubereitet. Um sicherzustellen, dass der Flan gleichmäßig aufgeht, muss man intuitiv ein gewisses Gleichgewicht zwischen den verwendeten Zutaten herstellen. Ich spüre in meinem Körper, wenn eine Aufnahme nicht die nötige Festigkeit und Weichheit hat. Manchmal werden die Regisseure zu weich und die Aufnahme funktioniert nicht. Ein anderes Mal sind wir zu hart, und es funktioniert trotzdem nicht. Bei meiner visuellen Arbeit geht es nie um Referenzen (ich bin nicht daran interessiert, fremde Bilder in die Realität zu importieren, die ich vor mir habe). Bildgestaltung ist für mich eher eine Art Intuition, ein Vorschlag für einen kollektiven Tanz, bei dem wir nicht aufeinanderprallen und keiner auf den anderen tritt. 

Andererseits glaube ich an die Theorie des Gleichgewichts von Jean Renoir. Wenn eine Aufnahme für den Betrachter einen schwierigen Text darstellt, muss das Bild maximal vereinfacht werden. Umgekehrt, wenn die Handlung vereinfacht wird, hat das Bild den Spielraum, visuell komplexer zu werden.

Deine Darsteller:innen sind perfekt ausgewählt. Kannst Du mir mehr zum Castingprozess erzählen?

Bei meinen Kurzfilmen gibt es kein Casting. Ich führe keine Castings durch, ich beobachte und spüre. Alles, was ich fiktional schreibe, hat seine Wurzeln in Beobachtungen, die ich über die Schauspieler und ihre Persönlichkeiten mache. Die Ideen auf den Karten haben oft damit zu tun. Paco Gorriz, die Figur des ‚Gigolo‘, der in einer Wechselstube arbeitet, ist jemand, der alle Schauspielerinnen zwischen 50 und 60 Jahren in der Theaterszene von Buenos Aires ohne Sex verführt. Ich weiß nicht, warum, aber die Schauspielerinnen lieben ihn. Er hat in dieser Welt eine extreme Anziehungskraft, und so schreibe ich schließlich etwas, das mit Pacos geheimnisvoller hypnotischer Fähigkeit bei älteren Frauen zu tun hat.

Andererseits ist Laila eine Schauspielerin, die ihr Leben im totalen Chaos zu leben scheint. Sie könnte das Bild einer chaotischen Person vermitteln, aber wenn ich als Regisseur „Action“ rufe, werden ihr Körper, ihr Verstand und ihr Geist in einer Sekunde auf mysteriöse Weise organisiert (es gibt keine schlechten Takes mit Laila). Da gibt es also etwas, auf das ich achten muss. Ist Laila nur dann chaotisch, wenn sie es will? Hat sie alles unter Kontrolle, ohne sich dessen bewusst zu sein? Ist diese Kontrolle intuitiv oder machiavellistisch? Dies sind Fragen, Beobachtungen, Notizen, die mich dazu bringen, maßgeschneiderte Charaktere für die von mir ausgewählten Schauspieler zu schreiben. Diese Methode verwischt die Unterscheidung zwischen Person und Figur, denn für mich ist das fiktionale Kino immer ein Dokumentarfilm oder sollte es immer sein. Wenn ich eine Figur schreiben und dann vorsprechen würde, wäre alles vom ‚Ideal‘ und von ‚Ideen‘ beeinflusst. Ich nehme lieber, was das Leben mir gibt, sonst langweile ich mich zu Tode. Deshalb schreibe ich mit Karten und vermeide Vorsprechen. Ich suche immer nach Methoden, um meine Filme lebendig zu halten, ein bisschen wie ein Dr. Frankenstein.

Kannst Du mir noch etwas mehr über Dich erzählen und wie Du zum Film gekommen bist?

Ich fühle mich nicht in der Lage, über mich zu sprechen. Ich weiß, dass zuerst die Ideen kommen, die Karten, die Abschweifungen. Irgendwann habe ich geglaubt, dass ich, weil ich so abschweifend bin, nichts mit dem Kino anfangen kann. Einige Jahre später wurde mir klar, dass, wenn ich nicht gegen meine eigene Art zu sein und zu denken ankämpfte, wenn ich mich mit mir selbst anfreundete und mit meiner ‚persönlichen Grammatik‘ liebevoll umging, die Dinge zu fließen begannen und die Willenskraft aufkam, meinen Beobachtungen, meinen Karten, meinen Ideen eine sichtbare Form zu geben.

Sind bereits neue Projekte geplant?

Ich sammle schon seit langem Ideen, Karten und Beobachtungen. Vielleicht wird das alles zu einem Langfilm führen. Wir werden sehen.

Die Fragen stellte Doreen Kaltenecker
Übersetzung von Michael Kaltenecker

Lies auch die Rezension des Kurzfilms „An Odd Turn


Interview: In our conversation with Argentinian director Francisco Lezama, we were able to find out more about his short film „An Odd Turn“ (OT: „Un movimiento extraño“), which won the Golden Bear for ‚Best Short Film‘ in the 74. Berlinale 2024 in the ‚Berlinale Shorts‚ section, how the ideas for his story come together, how he already has the actors in mind when writing and whether he sees himself as a visual director.

How did the idea come about? How did the love for dollars come together with the love story?

In my particular case, ideas never come from just one place. For several years, I began developing a non-traditional writing method. The method involves writing cards with ideas over a long period of time. These cards usually revolve around a specific theme (in the case of „Un movimiento extraño,“ about the Argentine Economic Crisis and Dollarization). Once I gather many cards, I select the winners ideas, and from then on, writing the script is more like juggling to ensure no idea falls on the ground, so that no idea is left out of the short or medium-length film I am undertaking. Suddenly, one card revolves around sex and capitalism, another around currency crises, another around the fantasies of a girl who believes she’s living a love story that only exists in her own mind.

Can you tell me about the conditions of how you realized the film? How long did you shoot for? How big was your team?

The short film was shot in two stages: before the pandemic and after the pandemic. It was a very difficult process, and I almost set the material aside. The pandemic completely changed the spirit of the downtown neighborhoods where I started filming the short in 2019. A very specific culture was devastated there (la cultura Porteña de Lavalle y Florida). In order to film in such busy places before the pandemic, the crew had to be necessarily small. We sacrificed lighting equipment and the amount of equipment in order to make everything more agile (almost in a documentary style). This crew reduction allowed us to film for more days. I think we filmed the short in 12 days initially, and 3 days after the pandemic.

The movie takes place in many different locations – in the museum and on the street. How did the filming go there?

We worked hard to convey the feeling that the protagonists (Laila Maltz and Paco Gorriz) are condemned to move or dance to the frenetic rhythm of the increasing value of the dollar.

What was important to you visually?

Although I don’t consider myself a „visual“ director, I believe I have my own aesthetic compass when it comes to directing. I am interested in making the image compact, concise, but also alive. This is something metaphysical that I end up intuiting or feeling rather than thinking about, but I believe the director’s work is like that of a chef preparing a flan. To ensure that the flan unmolds consistently, one must intuit a certain balance between the raw materials being used. I can feel in my body when a shot lacks the necessary firmness and softness. Sometimes directors soften too much and the shot doesn’t work. Other times, we harden too much, and it still doesn’t work. Visual work is never about references (I’m not interested in importing foreign images into the reality I have in front of me). Framing, for me, is more like intuiting, proposing a collective dance where we don’t collide and no one steps on another. 

On the other hand, I believe in Jean Renoir’s theory of balance. If a shot presents challenging text for the viewer, the image must be simplified to the maximum. Conversely, if the action is simplified, the image has the margin to become visually more complex.

Your actors were chosen perfectly. Can you tell me more about the casting process?

In my short films, there is no casting. I don’t hold auditions; I observe and intuit. Everything I write fictionally has its roots in observations I make about the actors and their personalities. The ideas on the cards often relate to this. Paco Gorriz, the „gigolo“ character who works in a currency exchange house, is someone who seduces no-sexually all the actresses between 50 and 60 years old in the Buenos Aires theater scene. I don’t know why, but actresses love him. He has an extremely magnetic power in that world, so, I end up writing something that has to do with Paco’s mysterious hypnotic ability with older women.

On the other hand, Laila is an actress who seems to live her life in total chaos. She could give you the image of a messy person, but when as a director I call „action,“ her body, her mind, and her spirit get mysteriously organized in one second (there are no bad takes with Laila). So there’s something there for me to pay attention to. Is Laila chaotic only when she wants to be? Is she in control of everything without realizing it? Is that control intuitive or Machiavellian? These are questions, observations, notes that lead me to write tailored characters for the actors I choose. This method blurs the distinction between person and character because to me, fictional cinema is always, or should always be, a documentary. If I were to write a character and then hold auditions, everything would be influenced by „the ideal“ and „ideas.“ I prefer to take what life gives me, otherwise I get bored to death. That’s why I write with cards and avoid auditions. I always seek methods to keep my films alive, a bit like a Dr. Frankenstein.

Can you tell me a bit more about yourself and how you came to make the movie?

I don’t feel capable of talking about myself. I know that first come the ideas, the cards, the digressions. At one point, I believed that because I was so digressive, I wouldn’t be able to do anything with cinema. Several years later, I realized that when I didn’t fight against my own way of being and thinking, when I befriended myself and I was loving with my “personal grammar”, things began to flow, and the willpower emerged to give visible form to my observations, my cards, my ideas.

Are there any new projects planned?

I’ve been accumulating ideas, cards and observations for a long time. Perhaps all of that will result in a feature film. We’ll see.

Questions asked by Doreen Kaltenecker

Read on the german review of the short film „An Odd Turn

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