Zehn Fragen an Todd Chandler

Doreen Kaltenecker

Interview: Im Gespräch mit dem amerikanischen Filmemacher Todd Chandler konnten wir mehr über seinen Dokumentarfilm „Bulletproof“ erfahren, der auf dem 63. DOK Leipzig seine deutsche Premiere feierte, wie er zu dem Thema fand, dass sich mit der Sicherungsmaßnahmen an Schulen gegen Amokläufern auseinandersetzt, und was ihm bei der Umsetzung – visuell wie dokumentarisch – am Herzen lag.

The original english language interview is also available.

Was war Deine ursprüngliche Motivation, dieses Thema anzugehen?

Im Jahr 2015 gab es eine Massenschießerei in Oregon. Am nächsten Tag hörte ich, wie eine Gruppe meiner Studenten am Brooklyn College vor dem Unterricht darüber sprach. Ich verschob meine Pläne und lud sie ein, das Gespräch über Lockdown-Übungen, den Einsatz von Polizei in Schulen und die Bewaffnung von Lehrern fortzusetzen. Ein paar der Studenten in diesem Jahr kamen aus Großbritannien, und sie bemerkten immer wieder, dass ihnen das Thema so ausgesprochen amerikanisch vorkam. Diese Diskussion blieb bei mir hängen, und später in diesem Jahr machte ich mich daran, einen Film zu drehen, der die Wege von Gewalt und Angst an Schulen in ganz Amerika aufzeigt, indem er die Art und Weise untersucht, wie wir versuchen, sie zu verhindern. Der Film sollte sich nicht auf Gewaltvorfälle konzentrieren, sondern auf die Infrastruktur, die Kultur und die Angst, die zwischen den Krisenmomenten existieren.

Hast Du selbst das Gefühl, dass die Schutzmaßnahmen eher der Beruhigung von Eltern und Lehrern dienen als den Schülern selbst? Hast Du auch mit Kindern und Jugendlichen darüber gesprochen, wie sie diese Erhöhung der Sicherheitsmaßnahmen aufnehmen?

Ich glaube, dass in Schulen ein gewisses Maß an Sicherheitstheater gespielt wird. Während der Dreharbeiten an verschiedenen Orten in den USA spürte ich oft ein Gefühl der Verzweiflung bei Pädagogen und Verwaltungsangestellten, die nach Wegen suchten, ihre Schulen sicherer zu machen – und auch sicherer erscheinen zu lassen. Diese beiden Ziele sind nicht immer deckungsgleich. Die Angst wird in verschiedenen Orten durch eine Vielzahl wirtschaftlicher und politischer Kräfte unterschiedlich instrumentalisiert. Jedes Mal, wenn es eine weitere Massenschießerei gibt, gibt es Druck von Regierungsbehörden, Polizei, Schulbehörden, Eltern und der Industrie, etwas zu tun, irgendetwas. Der Fokus auf sofortige ‚Lösungen‘, die gekauft oder sofort umgesetzt werden können, kann die tieferen kulturellen Probleme verdrängen, die damit zusammenhängen, woher diese Gewalt kommt und was es für alle jungen Menschen wirklich bedeutet, sicher zu sein und sich sicher zu fühlen.

Nachdem die Idee geboren war, wie lange haben die Recherchen und Vorbereitungen gedauert? 

Ich habe 2014 angefangen, darüber nachzudenken, und habe etwa drei Jahre lang recherchiert, Geldmittel beschafft und erste Dreharbeiten durchgeführt. Der Großteil der Produktion fand 2018 und in der ersten Jahreshälfte 2019 statt. Wir haben von Mai 2019 bis Januar 2020 geschnitten.

Wie hast Du die ProtagonistInnen für Deinen Film gefunden, u.a. die junge Frau, die schusssichere Hoodies produziert? 

Ich hatte eine frühe Vorstellung von dem Film, die ich sehr chaotisch auf Papier zu skizzieren begann, wohl wissend, dass sie sich im Laufe des Films radikal verändern würde. Diese Skizze enthielt die Faktoren, die ich in dem Film direkt oder indirekt hinterfragen wollte – Männlichkeit, Weißsein, Angst, Kapitalismus – sowie die Art von Szenen, die meiner Meinung nach für den Film wesentlich sein würden. Dazu gehörten Lehrer, die an Schusswaffen ausgebildet werden, eine mittelständische Firma oder ein Startup, eine Schule, die sehr aufwendige Sicherungsmaßnahmen durchführt. Die Produzentin von „Bulletproof“, Danielle Varga, und ich recherchierten in diesen Bereichen, tauschten unsere Erkenntnisse aus und einer von uns wandte sich dann an ein paar Institutionen oder Personen, die gut zu passen schienen. Danielle stieß bei ihren Recherchen auf Wonderhoodie und setzte sich mit der Inhaberin des Unternehmens in Verbindung, die nach mehreren Gesprächen zustimmte, mitzumachen. Andere Fälle waren eher zufällig. Ich war zum Beispiel in Texas City, Texas, um einen Workshop zu filmen, der von einem in Washington, D.C. ansässigen Unternehmen gegeben wurde und in dem es darum ging, wie man potenzielle Bedrohungen in Schulen einschätzen kann. Dieser Teil des Films hat nicht funktioniert, aber auf dieser Reise traf ich den Schulleiter von Texas City, der mich einlud, zu kommen und die Arbeit zu filmen, die sie zur Erhöhung der Sicherheit in ihren Schulen unternahmen.

Wie offen haben die Schulen und Personen auf Dein Filmprojekt reagiert?

Einige Leute waren anfangs skeptisch und befürchteten, der Film könnte sich über sie lustig machen oder sie als Beleg für einen Standpunkt benutzen. Es brauchte oft ein bisschen Zeit, um Vertrauen aufzubauen. Ich erklärte, dass ich auch Lehrer bin und neugierig darauf war, wie Gemeinschaften im ganzen Land das Thema Sicherheit in Schulen angehen. Ich habe versucht, klar zu machen, dass es in dem Film nicht um meine persönliche Einstellung geht, und dass ich keinen Film mit einer expliziten Agenda oder einen Film über Schusswaffenregulierung machen wollte. 

Über welchen Zeitraum ist Deine Dokumentation entstanden? Wie viele Orte und Schulen hast Du besucht?

Einige frühe Dreharbeiten fanden zwischen 2015 und 2017 statt, aber fast nichts von diesem Material schaffte es in den Film. Der größte Teil der Dreharbeiten fand zwischen 2018 und Anfang 2020 statt, immer wieder mal. Wir flogen für zwei bis vier Tage irgendwo hin und drehten, und kamen dann für ein oder zwei Wochen nach New York zurück, manchmal auch viel länger. Insgesamt haben wir, glaube ich, 14 Drehorte in den Vereinigten Staaten besucht. 

Die meiste Zeit bedienst Du Dich einer Fly-on-the-Wall-Perspektive und nur selten führst Du direkte Interviews. Was war Dir bei der Umsetzung Deiner Dokumentation wichtig?

Weil das Thema umstritten ist und so oft sensationslüstern dargestellt wird, wollte ich das Projekt mit bestimmten formalen Absichten angehen. Ich wollte nicht, dass der Film eine Aneinanderreihung von Stellungnahmen oder ein Aufwärmen dessen ist, was bereits in der Berichterstattung oder in sehr aktuellen Dokumentarfilmen überspitzt dargestellt wurde. Ich wollte mich nicht auf bestimmte Personen oder Vorfälle von Gewalt konzentrieren. Ich wollte mich nicht auf sprechende Köpfe für die Darstellung oder den Kontext verlassen. Ich wollte einen Film über Systeme machen, der sein Thema mit einer gewissen Distanz betrachtet und es aus einem leicht schiefen Blickwinkel betrachtet – um ein bestimmtes Bündel von Ritualen, Proben, Choreographien zu beobachten und dem Publikum Raum für Assoziationen zu lassen. Ich wollte nicht, dass der Film eine Botschaft hat, aber ich wollte, dass er durch seine Kontraste und Nebeneinanderstellungen einen klaren Standpunkt hat. Natürlich waren diese Regeln flexibel … mehr wie Wegweiser. Ich habe Interviews gefilmt, wenn ich das Gefühl hatte, dass es sinnvoll wäre. Aber die Momente der Interviews, die es in den Film geschafft haben, sind die, in denen die Teilnehmer direkt über ihre Arbeit oder ihre Erfahrungen sprechen und nicht philosophieren oder allgemeine Positionen darlegen. 

Kannst Du am Schluss noch ein bisschen mehr über Dich erzählen und wie Du zum Dokumentarfilm gekommen bist.

Ich mache seit vielen Jahren Dokumentarfilme als Regisseur und Cutter. Ich mache auch kinobasierte Installationen, mache Musik und unterrichte. Manchmal kombiniere ich all diese Dinge. Egal welches Medium oder welche Form, ein Projekt beginnt für mich mit einer Reihe von trügerisch einfachen Fragen. In diesem Fall: Was bedeutet es, sicher zu sein? Sich sicher zu fühlen? Während sich das Projekt entwickelt, verschieben und erweitern sich die Fragen – es gibt so viele Wendungen. Ich suche nicht nach Antworten und versuche auch nicht, sie zu finden, sondern verkompliziere und vertiefe die Fragen, von denen ich hoffe, dass das Publikum sie genauso spannend findet wie ich.

Bulletproof“ war Dein erster Langfilm. Wie geht es jetzt weiter? Sind bereits neue Projekte geplant?    

Bulletproof“ hatte einen großartigen Festivallauf, der bis ins Frühjahr 2021 andauern wird, gefolgt von einer Art Kinostart (abhängig von COVID). Im Herbst 2021 wird der Film im öffentlichen Fernsehen in den USA ausgestrahlt. Wir sind auf der Suche nach Sende- und Vertriebspartnern in Europa. Ich freue mich auch sehr darauf, den Film mit Schulen, Schulbehörden und bildungsbezogenen Institutionen in den ganzen Vereinigten Staaten zu teilen. Ich arbeite also immer noch daran, „Bulletproof“ in die Welt zu bringen, und zusätzlich dazu unterrichte ich, bin mit Kinderbetreuung beschäftigt und beginne mit der Recherche für einen neuen Film.

Die Fragen stellte Doreen Matthei
Übersetzung von Michael Kaltenecker

Lies auch die Rezension des Kurzfilms „Bulletproof


Interview: In our interview with American filmmaker Todd Chandler, we were able to learn more about his documentary “Bulletproof“, which celebrated its German premiere at the 63rd DOK Leipzig, how he came to the topic, which deals with school security measures against school shooters, and what was close to his heart in the realization – visually as well as in terms of its documentary approach.

What was your initial motivation for tackling this topic?

In 2015 there was a mass shooting in Oregon. The next day I overheard a group of my Brooklyn College students talking about it before class. I put aside my plans and invited them to continue the conversation about lockdown drills, putting police in schools, and arming teachers. A few of the students that year were from the UK, and they kept remarking that the subject matter seemed so distinctly American to them. This discussion stuck with me, and later that year I set out to make a film to map the paths of violence and fear in schools across America by examining the ways in which we try to prevent it. Rather than centering incidents of violence, the film would focus on the infrastructure, culture, and fear that live in between moments of crisis.

Do you yourself have the feeling that the protective measures are more for the reassurance of parents and teachers than for the students themselves? Have you also talked to children and young people – how they take this increase in safety measures?

I do think there’s a certain amount of security theater playing out in schools. While filming in various locations around the United States, I often felt a sense of desperation from educators and administrators who were searching for ways to make their schools safer – and also to appear safer. Those two goals are not always aligned. Fear is instrumentalized differently in different communities by a variety of economic and political forces. Every time there’s another mass shooting there’s pressure from government agencies, police, school boards, parents, and industry to do something, anything. The focus on immediate ‘solutions’ that can be bought or instantly implemented can eclipse the deeper set of cultural problems related to where this violence comes from, and what it really means for all young people to be safe, and to feel safe.

After the idea was born, how long did the research and preparation take?

I started thinking about this in 2014 and spent about three years researching, fundraising, and doing preliminary shoots. The majority of production took place in 2018 and the first half of 2019. We edited from May 2019 until January 2020.

How did you find the protagonists for your film, including the young woman who produces bulletproof hoodies?

I had an early vision for the film that I began mapping out, very messily, on paper, knowing it would change radically along the way. That map included the forces I wanted to interrogate in the film, directly or indirectly – masculinity, whiteness, fear, capitalism – as well as the kinds of scenes I felt would be essential to the film. Among those were teachers being trained with firearms, a cottage industry or startup, a school undertaking very elaborate hardening measures. “Bulletproof“s producer, Danielle Varga, and I would do research in these areas, share our findings, and then one of us would reach out to a few institutions or people that seemed to be a good fit. Danielle came across Wonderhoodie in her research and got in touch with the owner of the company, who after several conversations, agreed to participate. Other instances were more serendipitous. For example, I was in Texas City, Texas filming a workshop being given by a Washington DC-based company on how to assess potential threats in schools. That thread of the film didn’t work out, but on that trip I met the superintendent of schools for Texas City, who invited me to come and film the work they were doing to increase security in their schools.

How openly did the schools and people react to your film project?

Some people were skeptical at first, and were concerned that the film might make fun of them or use them to prove a point. It often took a bit of time to build trust. I explained that I was also a teacher and was curious about how communities around the country were approaching safety and security in schools. I tried to be clear that the film was not about my personal politics, and that I wasn’t making a film with an explicit agenda, or a film about gun control. 

How long did the filming of your documentary material take? How many places and schools did you visit?

Several early shoots happened between 2015 and 2017, but almost none of that material made it into the film. Most of the filming happened between 2018 and early 2020, off and on. We would fly somewhere for 2-4 days and film, and then come back to New York for a week or two, or much longer at times. In total I think we visited 14 locations around the United States. 

Most of the time you use a fly-on-the-wall perspective and only rarely do you conduct direct interviews. What was important to you in making your documentary?

Because the subject matter is contentious and so often sensationalized, I wanted to approach the project with a certain set of formal intentions. I didn’t want the film to be a series of position statements or a re-hashing of what’s already been overstated in news reporting or very topical documentaries. I didn’t want to focus on specific individuals or incidents of violence. I didn’t want to rely on talking heads for exposition or context. I did want to make a film about systems that held its subject matter at a certain distance, reframing it from an angle that was slightly askew – to observe a particular set of rituals, rehearsals, choreographies, leaving space for the audience to make associations. I didn’t want the film to have a message, but I did want it to have a distinct point of view, through its contrasts and juxtapositions. Of course those rules were flexible … more like guideposts. I filmed interviews when I felt it would be useful. But the moments of interviews that made it into the film are those in which the participants are speaking directly about their work or experiences, not philosophizing or stating broad positions. 

Can you tell a little bit more about yourself and how you came to make a documentary?

I’ve been making documentaries for many years as a director and an editor. I also make cinema-based installations, play music, and teach. Sometimes I combine all of these things. No matter what the medium or the form, a project starts for me with a set of deceptively simple questions. In this case: What does it mean to be safe? To feel safe? As the project evolves, the questions shift and expand— there are so many twists and turns. I’m not looking for or trying to arrive at answers, but rather complicating and deepening questions that I hope an audience will find as engaging as I do.

What are the next steps for “Bulletproof”? Do you have other projects already planned?

Bulletproof” has been having a great festival run which will continue into the spring of 2021, followed by some kind of theatrical release (COVID dependent). In the fall of 2021 the film will be broadcast on public television in the U.S.. We’re looking for broadcast and distribution partners in Europe. I’m also very excited to share the film with schools, school boards, and education-related institutions around the United States. So, I’m still working on getting “Bulletproof” out into the world, and in addition to that I’m teaching, parenting, and starting research on a new film.

Questions asked by Doreen Matthei

Read on the german review of the film „Bulletproof“ 

Kommentar verfassen