Sieben Fragen an Joachim Hérissé

Doreen Kaltenecker
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Interview: Im Gespräch mit dem Regisseur und Animationskünstler Joachim Hérissé konnten wir mehr über seinen Kurzfilm „Skinned“ (OT: „Écorchée“), der auf dem 35. Filmfest Dresden 2023 den Publikumspreis im ‚Internationalen Wettbewerb‘ gewann, erfahren. Er erzählt uns, wie Alpträume und Märchen seinen Film geformt haben, wie die Zusammenarbeit mit der Künstlerin Aline Bordereau den stimmigen Stil schuf und welche Interpretationshilfe er uns an die Hand geben möchte.

The original english language interview is also available.

Wie ist die Idee zu „Skinned“ entstanden?

Mit „Skinned“ wollte ich zunächst die Gefühle der Angst wiederentdecken, die ich als Kind hatte, als mein Bruder mir abends Gruselgeschichten erzählte. Außerdem wollte ich Gefühle aus fiebrigen Albträumen zum Ausdruck bringen, in denen ich spürte, wie sich mein Körper aufblähte, dann schrumpfte, sich wieder aufblähte und die ganze Nacht hindurch immer wieder schrumpfte. Um diese beiden Zustände meines Körpers darzustellen, schrieb ich diese Figuren: die gehäutete Schwester und die aufgeblähte Schwester, zwei Siamesinnen, die durch ein Bein verbunden sind.

Wie weit haben Dich klassische Märchen inspiriert?

Jetzt, wo mein Film fertig ist und ich einen Blick zurückgeworfen habe, habe ich das Gefühl, dass mich die klassischen Märchen wirklich inspiriert haben. Ich bin fasziniert von den Originalversionen dieser klassischen Märchen (Grimm, Andersen, Perrault), von ihrer Rohheit, ihrer Gewalt, den vielen Möglichkeiten, wie wir die Geschichten, die Figuren und die Symbole interpretieren können. Ich liebe das Kino, das diese Interpretationsfreiheit bietet, weil ich mich wie ein aktiver Zuschauer fühle, der seinen eigenen Film macht, den er sieht.

Kannst Du mir mehr zu den alptraumhaften Elementen erzählen und ob Du unseren Leser eine Interpretationshilfe geben willst?

In meinem Film hatte ich das Vergnügen, viele Erinnerungen an meine Kindheit zusammenzubringen, solche, die mich gestört haben, wie meine Oma, die Kaninchen gehäutet hat, oder ein verspiegelter Kleiderschrank aus den 60er Jahren, der mich gestresst hat. Eines der stärksten Elemente des Films ist das Boot, der Auslöser meiner Geschichte, die Gelegenheit für die gehäutete Schwester, aus ihrer Routine auszubrechen.

Die Animationen sind schauerlich und gut. Was lag Dir visuell am Herzen und warum hast Du Dich für Stop-Motion entschieden?

Während das Schreiben des Drehbuchs ganz natürlich war, war das visuelle Schreiben mühsamer. Ich musste ein plastisches Universum finden, das stark genug war, um die Empfindungen dieses Alptraums wiederzugeben. Nach mehreren erfolglosen Versuchen hatte ich eine Offenbarung: Textilien waren das ideale Material, um körperliche Empfindungen auszudrücken, denn die Fasern des Stoffes erinnerten mich an die Muskelfasern eines gehäuteten Körpers. Dann entdeckte ich bei meiner Internetrecherche das textilbespannte Rindfleisch der plastischen Künstlerin Aline Bordereau. Ihr Universum hat mich überwältigt. Ich nahm Kontakt mit ihr auf und bot ihr eine Zusammenarbeit an. Aline verstand sehr schnell meine Absichten, die sich mit ihrer eigenen Arbeit deckten, und sie fertigte die Originalpuppen für den Film an.

Kannst Du mehr zu den Geräuschen erzählen? Was war Dir auf der hörbaren Ebene wichtig?

Genau wie bei den Puppen und dem Bühnenbild wollte ich, dass das Tonmaterial eine physische Erfahrung für den Zuschauer ist. Ich wollte, dass sich das Sounddesign ASMR-Erfahrungen annähert und die textile Identität der Puppen nährt. Ich wollte auch, dass dieses Sounddesign eng mit der Musik verbunden ist, die ich mir als melancholisch und zerbrechlich vorstellte. Barock. Ich hatte die Gelegenheit, Antoine Duchêne zu treffen, einen klassisch ausgebildeten Cellisten, dessen musikalische Kompositionen sich mit Elektroeinflüssen und Sounddesign erweitern. Der Reichtum der Komposition spiegelte die barocke Identität von „Skinned“ wider. Antoine schaffte es, die von mir gewünschte Zerbrechlichkeit durch seine Komposition und Instrumentierung zu erreichen, die, gelinde gesagt, überraschend ist. Seine Blockflötengeige, eine Art Tastengeige, deren zerbrechlicher Klang perfekt zu der von mir gewünschten Melancholie und dem barocken Stil passt.

Kannst Du mir noch ein bisschen mehr von Dir erzählen und wie Du zum Film gekommen bist?

Ich wollte schon sehr früh Filme machen. Ich habe schon als Kind mit meiner Schwester, meinen Cousins und Cousinen, meinen Freunden angefangen. Aber wir haben unsere Filme nur selten fertiggestellt, und das hat mich sehr frustriert. Als Gymnasiast entdeckte ich die 3D-Software und verliebte mich schnell in dieses Werkzeug, mit dem ich einen (Animations-)Film allein fertigstellen konnte! Ich habe zwar keinen fertiggestellt, aber ich fand schnell Arbeit in Paris in Studios für Spezialeffekte und Animation und lernte dort ein breites Spektrum an Animationsfähigkeiten. Nach mehreren Jahren Arbeit als Grafikdesigner und 3D-Animator hatte ich die Gelegenheit, zwei Zeichentrickserien für Canal+ zu schreiben und zu inszenieren, deren Besonderheit darin bestand, dass ihre Darstellung der traditionellen Schnittanimation nahe kam. Später, als ich der 3D-Werkzeuge überdrüssig war, beschloss ich, mich ganz der traditionellen Animation zuzuwenden und begann, Projekte im Bereich der Puppenanimation zu schreiben und eine Produktionsfirma zu gründen: Komadoli Studio.

 Sind bereits neue Projekte geplant?

Ich fahre fort, meine Ängste zu erforschen, indem ich ein Horror-Anthologie-Serienprojekt mit dem Titel „Dolls“ entwickle, das das plastische Universum und die Themen von „Skinned“ aufgreift, insbesondere die mit dem Körper verbundenen Ängste. Außerdem schreibe ich einen Stop-Motion-Film mit rohen und gekochten Tonpuppen. Ein Musikfilm vor dem Hintergrund einer dunklen Romanze, in der sich sesshafte und nomadische Menschen gegenüberstehen.

Die Fragen stellte Doreen Kaltenecker
Übersetzung von Michael Kaltenecker

Lies auch die Rezension des Kurzfilms „Skinned


Interview: In our conversation with director and animation artist Joachim Hérissé, we were able to learn more about his short film “Skinned” (OT: “Écorchée”), which won the Audience Award in the ‘International Competition’ at the 35th Filmfest Dresden 2023. He tells us how nightmares and fairy tales shaped his film, how the collaboration with artist Aline Bordereau created the coherent style and what interpretation help he wants to give us.

How did the idea for “Skinned” come about?

With “Skinned“, I first wanted to rediscover the sensations of fear that I had as a child when my brother told me scary stories during our evenings. I also wanted to express feelings from feverish nightmares where I could feel my body bloating, then shrinking, and bloating again and shrinking again and again all night long. To represent these two states of my body, I wrote these characters: the skinned sister and the bloated one, two siamese joined by a leg.

To what extent did classical fairy tales inspire you?

Now that my film is done and that I took a step back, I feel that classical fairy-tale really inspired me. I have a fascination for the original version of those classical tales (Grimm, Andersen, Perrault), for their rawness, their violence, the multitude of ways we can interpret the stories, the characters, the symbols. I love cinema that offers this freedom of interpretation because I feel like an active spectator making my own film that I watch.

Can you tell me more about the nightmarish elements and if you want to give our readers some interpretation help?

In my film, I had the pleasure to bring together many memories of my childhood, those who disturbs me, like my granny who skinned rabbits, or like some 60’s mirrored wardrobe that was stressing me out. One of the strongest elements of the film is the boat, the trigger of my story, the opportunity for the skinned sister to get out of her routine. 

The animations are excellent and gruesome. What were you visually interested in and why did you choose stop motion?

 If the scriptwriting came quite naturally, the visual writing was more laborious. I had to find a plastical universe strong enough to get back in those nightmare’s sensations. After several unsuccessful attempts, I had a revelation: the textile was the ideal material for expressing bodily sensations, because the fiber of the fabric reminded me of the muscle fiber of a skinned body. Then, in my internet research, I discovered the textile skinned beef of the plastic artist Aline Bordereau. Her universe overwhelmed me. I contacted her and offered a collaboration. Aline very quickly understood my intentions, which echoed her own work, and she made the original puppets for the film.

Can you tell us more about the sounds? What was important to you on the sound aspect of the film?

In the same way as for the puppets and sets, I wanted the sound material to be a physical experience for the spectator. I wanted the sound design to approach ASMR experiences and nourish the textile identity of the puppets. I also wanted this sound design to be intimately linked to music that I imagined to be melancholic and fragile. Baroque. I had the chance to meet Antoine Duchêne, a classically trained cellist, whose musical compositions expand with electro influences and with sound design. The richness in the composition echoed the baroque identity of “Skinned“. Antoine managed to bring the fragility that I wanted through his composition and instrumentation that is surprising to say the least. His recorder keyed fiddle, a kind of keyboard violin whose fragile sound fit perfectly with the melancholy and barocity I wanted.

Can you tell me a bit more about yourself and how you got into film?

Very early on, I wanted to make films. I started as a child with my sister, my cousins, my friends. But we rarely finalized our films, and that frustrated me enormously. As a high school student, I discovered 3D software and quickly fell in love with this tool which could allow me to finish an (animated) film on my own ! I didn’t finish any of them, but I quickly found work in special effects and animation studios in Paris and learned on the job a fairly broad spectrum of animation skills. After several years of work as a graphic designer and 3D animator, I had the opportunity to write and direct two animation series for Canal+ which have the particularity of having a rendering close to traditional cut out animation. Subsequently, tired of the 3D tools, I decided to switch completely to traditional animation, starting to write projects in puppet animation and setting up a production company: Komadoli Studio.

Are there any new projects planned?

I continue to explore my anxieties by developing a horror anthology series project entitled “Dolls”, which takes up the plastical universe and themes of “Skinned“, in particular the anxieties linked to the body. I am also writing a feature stop motion film using raw and cooked clay puppets. A musical film against a backdrop of dark romance confronting sedentary and nomadic people.

Questions asked by Doreen Kaltenecker

Read on the german review of the short film “Skinned

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