Sechs Fragen an Evgenia Gostrer

Doreen Kaltenecker
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Interview: Im Gespräch mit der Regisseurin Evgenia Gostrer konnten wir mehr über ihren Kurzfilm „Kirschknochen“ erfahren, der auf dem 38. Interfilm Berlin im Deutschen Wettbewerb lief, warum sie sich dafür entschieden hat, ihre eigene Geschichte und die ihrer Eltern zu erzählen und warum Knete das perfekte unperfekte Medium für ihre Arbeit ist.

Warum hast Du Dich entschieden, Deine und die Geschichte deiner Eltern als Animationsfilm zu erzählen? 

Die Geschichte hat sich für mich entschieden. ;-) Im Ernst, diese Geschichte wollte erzählt werden. Ich habe zwar sehr lange darüber nachgedacht, wie sie erzählt werden könnte und ob ich es sein sollte, die sie erzählt, aber dass sie in die Welt muss, war klar. In meinem Film „Kirschknochen“ geht es um Migration, um eine ganz bestimmte Migration: von jüdischen Menschen, die als „Kontingentflüchtlinge“ aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion in den Jahren 1991 bis 2005 nach Deutschland eingewandert sind. Offizielle Zahlen sprechen von insgesamt 230.000 Menschen (inoffiziell sind es mehr). Diese Menschen verließen ihre Herkunftsorte als Jüdinnen und Juden, einige als Holocaust-Überlebende. Sie waren und sind alle hochqualifiziert: Ingenieur*innen, Ärzt*innen, Ökonom*innen, Lehrer*innen usw. Und sie wurden in Deutschland zu Russ*innen. Ohne Sprache, ohne Job, ohne Rentenansprüche. Sie mussten von Null anfangen. Sie gingen des Antisemitismus wegen und um der nächsten Generation mehr Chancen bieten zu können. Natürlich hatten sie aber auch Hoffnungen für sich, ganz gleich wie alt sie waren. Am Beispiel der Migrationsgeschichte meiner Familie, wollte ich von diesen Erfahrungen erzählen. Dieser Gruppe von Menschen eine Stimme geben und auch aus meiner Sicht die Dinge beleuchten. Ich glaube daran, dass diese Migrationsgeschichten die Aufmerksamkeit der Mehrheitsgesellschaft verdienen. Denn sie sind übertragbar. Auf andere Migrationsgeschichten, sowohl in der Vergangenheit als auch in der Zukunft. Ganz ohne Pathos – gut erzählte Geschichten können sehr wirkmächtig sein und etwas bewegen. Und ich glaube fest daran, dass Animationen Herzen öffnen können.

Wie haben Deine Eltern auf die Idee reagiert? 

Am Anfang haben sie sich geschmeichelt gefühlt, dann aber schnell einen Rückzieher gemacht. Denn es ist nicht einfach, an die Öffentlichkeit zu gehen und in den Lichtkegel zu treten, auch wenn es in einem Animationsfilm ist. Man macht sich nochmal verletzlich, nach all den Verletzungen die sie als Migrant*innen durchlebt haben. Es ist auch viel Scham dabei. Eine Mischung aus allen möglichen Gefühlen und Gedanken. Nach einigen Auseinandersetzungen, die ich auch im Film thematisiert habe, ist es uns gelungen, einen Weg zu finden, mit dem wir alle glücklich sind.

Wie viel Zeit hast Du im Gesamten gebraucht, um das Projekt umzusetzen? Wie groß war Dein Team? 

Von der Idee bis zur Fertigstellung brauchte ich fünf Jahre, inklusive Antragstellung, Brotjobs und Schlafen zwischendurch. ;-) Geschrieben, animiert und gesprochen habe ich selbst. Und ich hatte das Glück mit einem tollen Musiker zusammen zu arbeiten – Pit Johannes Przygodda. Er hatte so viel Einfühlungsvermögen und Wissen, Erfahrung und echtes Interesse – das war wirklich unglaublich schön! Für die Tongestaltung war Christian Wittmoser verantwortlich – er war sehr genau und wahnsinnig professionell, wir haben schon bei anderen Projekten zusammengearbeitet und wussten wie jede*r von uns funktioniert. Und außerdem hatte ich Unterstützung von Amos Ponger beim Schnitt – weniger konkret im Editing-Prozess, sondern im Gespräch über Dramaturgie und Erzählstrukturen. Amos stellte einfach immer die richtigen Fragen. Und dann waren dann natürlich viele Freund*innen und ehem. Lehrende, Atelier-Kolleg*innen und nicht zuletzt (sondern eigentlich durchgehend) mein Partner – sie alle haben mich bei diesem sehr persönlichen Film begleitet, kritisch hinterfragt und bestärkt. 

Kannst Du mir mehr zu Deinen Animationen aus Knete erzählen? Wie ist es, mit diesem Material zu arbeiten und welche visuelle Entscheidungen prägen den Film? 

Ich animiere mit Kinderknete auf Wachsbasis. Die Knetstreifen sind klein und liegen gut in der Hand, und sie werden weich, wenn die Hände warm genug sind. Knete ist ein faszinierendes Material – sie kann alles. Fast. Und dieses ‚fast‘ ist entscheidend. Knete kann kein ‚Perfekt‘. Im Umkehrschluss: Sie erlaubt Fehler. Und das finde ich fantastisch. Das entspannt und motiviert mich beim Arbeiten, denn ich verlasse mich auf meine Intuition. Ich animiere ‚Fast Forward‘, also ohne im Voraus jedes Zwischenbild zu planen, sondern nur mit einem Bild vor dem inneren Auge, zu dem ich hin möchte. Aber das ist auch nicht genau. Gleichzeitig braucht dieses ungenaue Material genaue Bewegung. Wenn ich zwischendrin als Betrachter*in einen Schuh erkenne und ich als Animator*in dann dieses Element wie einen Fuß in einem Schuh bewegen lassen, dann kann sich der Schuh nach kurzer Zeit im Bild auflösen. Solange die Bewegung an eine Bewegung eines Fußes im Schuh erinnert, brauche ich den Fuß und den Schuh nicht durchgehend ganz zu sehen. Klingt abstrakt, was ich aber meine ist, dass ich als Animator*in auf die Fähigkeiten der Augen meiner Zuschauer*innen vertrauen kann, solange ich ab und an die Regeln der ‚klassischen‘ Animation befolge. So fühle ich mich als Schaffende frei. Und ich lasse den Betrachter*innen Freiraum für Interpretation. Überhaupt Freiraum. Das finde ich persönlich sehr wichtig, sowohl als Schaffende als auch als Betrachtende.

Wie hat Deinen Eltern Dein finaler Film gefallen? 

Sie behaupten, dass er ihnen gut gefallen hätte. ;-) Na ja, es ist nicht einfach, mit seinen Kindern über Gefühle zu sprechen, über nicht verarbeitete Schmerzen, vor allem, wenn man – so wie meine Eltern – aus einer bestimmten Generation und einem bestimmten Kulturkreis kommt. Sie machen alles toll, ich verstehe alles, auch ohne dass wir darüber sprechen müssen. Ich weiß nicht, wie ich damit umgehen würde. Sie sagten „Danke“ und dann hat mein Vater, nachdem der Film seinen ersten Preis bekommen hat, im Spaß gefragt, wo denn jetzt seine Statuette sei, immerhin sei er der Hauptdarsteller des Films gewesen.

Zum Schluss noch die Frage, wie es Dir jetzt in deinem neuen Leben ergeht und wie es filmtechnisch nun weitergehen wird? Sind bereits neue Projekte geplant? 

Wenn ein Film fertig gestellt ist, fühlt sich das für mich immer nach einer Trennung an. Ich habe das Bedürfnis aufzuräumen, mir klar zu werden über meine neuen Ziele, alles anders zu machen. Ja, ein neues Projekt ist im Entstehen. Diesmal wird es weniger persönlich. Zumindest so der Plan.

Die Fragen stellte Doreen Kaltenecker

Lies auch die Rezension des Kurzfilms „Kirschknochen

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