Studium der Kunstgeschichte - Schwerpunkt: Filmgeschichte (Abschluss 2010 mit der Arbeit "Rembrandt im Spielfilm") Nebenfächer: Philosophie und Alte Geschichte
- seit 2012: Filmkritikerin bei movieworlds (Kino, DVD, BD, Festivalberichte)
- seit 2015: Blog 'Testkammer' online
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Filmkritik: Die deutsche Regisseurin Annika Mayer feiert mit ihrem ersten Dokumentar-Langfilm – „Home Sweet Home“ (Deutschland, 2023) – auf dem 66. DOK Leipzig 2023 seine Weltpremiere und erzählt darin die Geschichte ihrer Großmutter und ihrer von Gewalt bestimmten Ehe mit ihrem Mann.
Als Rose 17 Jahre alt war, lernte sie Rolf kennen. Sie träumt davon, die Schule fertig zu machen und zu studieren, doch Rolf möchte sie zur Frau. Ihre Familie drängt sie zu einer frühen Ehe, so geht sie von der Schule ab und heiratet den 13 Jahre älteren Rolf. Ihr Leben wirkt wie aus einem Bilderbuch der Bundesrepublik Deutschland. Schnell sind die beiden Kinder Ernst und Frank da und sie bleibt zuhause, kümmert sich ums Haus, während der Vater arbeiten geht. Aber hinter der Fassade, die auch in Bildern und Filmmaterial festgehalten wird, behandelt Rolf seine Frau Rose immer mehr mit Wut und Gewalt. Doch sie wagt sich aus dieser Ehe nicht auszubrechen.
Die Regisseurin Annika Mayer steckte ganz in den Recherchen zu einem Langfilm über häusliche Gewalt, als ihre Mutter auf die alten Super-8-Aufnahmen der Großeltern stieß und diese eigentlich entsorgen wollte. Nach deren Sichtung, beschloss die Regisseurin ihrerseits ihre Großmutter zu interviewen, denn die fröhlichen Aufnahmen passten garnicht zu dem Bild, was sie von den Großeltern und auch von den bereits verstorbenen Großvater vermittelt bekommen hatte. In den Interviews mit ihrer sehr offen sprechenden Oma kommt Annika und mit ihr das Publikum dem der Ehe und deren Entwicklung näher und sieht, wie die Gewalt immer mehr an die Oberfläche trat. Man schaut hinter die Fassade einer vorbildlich aussehenden Ehe, kann verstehen, was Frauen antrieb und antreibt, nichts zu sagen. Oft fehlt es an Vertrauten und Menschen, die sich schützend vor sie stellen. Durch ihre Erzählung wird klar, wie reduziert sie sich selbst wahrnehmen und dass das Kindswohl wichtiger war als ihr eigenes. Der Film macht die Schweigespirale greif- und fühlbar. Oft ist man entsetzt über die Schilderungen.
Wenn man Rose nicht selbst im Interview sieht, sieht man die Super-8-Aufnahmen, die ein konträres Bild vermitteln. Die Regisseurin hat diese mit ihrer Oma zusammen angeschaut, so dass man ein besonders lebendiges Bild davon bekommt, wie Rose selbst zu diesen Aufnahmen steht und wie dadurch auch Erinnerungen wach werden. Hinzu kommt ein gelungener Kniff, denn Mayer hat alle Aufnahmen durch den Sound Designer Gaston Ibarroule nachvertonen lassen, so dass man noch mehr in diese Heile-Welt-Aufnahmen hineingezogen wird. Die Griesligkeit des Materials verstärkt noch einmal den Kontrast zu den glasklaren Interviewaufnahmen. Die entstandene Dokumentation ist ein starker Film, der zwar sehr privat erzählt ist, aber ein generelles Thema, das oft verschwiegen wird, aufgreift und das Publikum direkt emotional involviert.
Vorstellung auf dem DOK Leipzig
Fazit: „Home Sweet Home“ ist eine gelungene Dokumentation, die sich aus einem persönlichen Blickwinkel heraus mit der Gewalt in der Ehe beschäftigt und zeigt, warum viele Frauen den Absprung aus solch einer Beziehung nicht schaffen. Die Mischung aus idyllischen Super-8-Aufnahmen mit den offenen und berührenden Schilderungen der Großmutter der Regisseurin Annika Mayer liefert ein eindringliches Bild, das noch lange nachklingt und auch die Frage danach stellt, ob zu oft weggeschaut wird.