Neun Fragen an Annika Mayer

Doreen Kaltenecker
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Interview: Im Gespräch mit der deutschen Regisseurin Annika Mayer konnten wir mehr über ihre Dokumentation „Home Sweet Home“ erfahren, die auf dem 66. DOK Leipzig 2023 ihre Weltpremiere feierte, wie es dazu kam, mit ihrer eigenen Großmutter über die häuslichen Gewalterfahrungen zu sprechen, das frühere Super 8 Material aufzubereiten und wie die Familie auf das Filmprojekt reagiert hat.

Wie kam es, dass Du Dich entschieden hast, die Geschichte Deiner Großmutter und ihre häuslichen Gewalterfahrungen zu erzählen?

Eigentlich haben ich und mein Kollege Jakob Krese darüber gesprochen, einen Langfilm über häusliche Gewalt zu machen. Bei meinen Recherchen habe ich dann darüber nachgedacht, ob es nicht wichtig wäre, meine Großmutter zu befragen (solange es noch geht). Dann sind meine Eltern umgezogen und meine Mutter meinte, sie entsorge das alte Super-8-Material von meinem Vater und seinen Eltern (das sie die ganze Zeit aufbewahrt hatte). Ich nahm das Filmmaterial an mich und beim Sichten erstaunte mich die Inszenierung der heilen Familie und die Ausgelassenheit meines Großvaters, den ich nicht so in Erinnerung hatte (er starb, als ich 10 Jahre alt war). So kam die Idee, mit meiner Großmutter das Material anzuschauen und gemeinsam dahinter zu blicken.

Wie konntest Du Deine Großmutter von diesem Projekt überzeugen und wie war es mit ihr, diese Super-8-Filme zu sehen? 

Meine Großmutter war erstaunlich offen darüber zu sprechen. Sie meinte, es sei ein vergangenes Kapitel ihres Lebens, mit dem sie abgeschlossen habe. Aber ich glaube, sie dachte damals, dass ich ein kleines Filmprojekt mache, das im Endeffekt niemand zu Gesicht bekommt und war jetzt doch überrascht, dass der Film auf dem DOK Leipzig so viel Publikum hatte. Wie sie im Film sagt, hat sich meine Großmutter sehr darüber gefreut, ihre Söhne als kleine Kinder zu beobachten, aber es war für sie schon komisch, meinen Großvater in Bewegtbild zu sehen. Und dann kamen die Momente, in denen sie sich an Dinge zurückerinnert hat, an die sie sich vielleicht auch lieber nicht erinnert hätte. Aber meine Großmutter hat sich auch einen Schutzmantel aufgebaut und lässt nur in wenigen Momenten durchblicken, was emotional bei ihr passiert. Ich glaube aber, dass sie sehr froh war, dass ich ihr im Zuge des Projektes viele Fragen zu ihrem früheren Leben gestellt habe, die sie mit mir teilen konnte.

Über welchen Zeitraum habt ihr zusammen geschaut und die Interviews mit ihr aufgenommen?

Ich hatte schon vor dem Dreh mit meiner Großmutter über die häusliche Gewalt und meinen Großvater gesprochen, aber wir haben vier Tage gedreht, in denen das Material im Loop über die Leinwand lief. So kamen dann auch immer wieder neue Bezüge zum Material auf.

Wie groß war Dein Team und wie lange hat der Film insgesamt für seine Realisierung benötigt?

Das Team bestand hauptsächlich aus drei Personen. Dem Produzenten und Kameramann Jakob Krese, dem Sound Designer Gaston Ibarroule und mir. Ich habe den Film selbst geschnitten, was für mich einerseits wichtig war, andererseits auch eine große Herausforderung, da ich keinen Abstand mehr zum Projekt hatte. Jakob hat zum Glück immer wieder gesichtet und wir haben viel diskutiert und auch ein paar Test-Screenings mit Freund:innen organisiert, um viele Dinge abzuklopfen. Gaston hat dann sehr lange und intensiv am Sounddesign gearbeitet, weil das Super-8-Material ja keinen Ton hat und es deswegen außer dem O-Ton meiner Großmutter keinen O-Ton gab. Er hat meiner Meinung nach großartige Arbeit geleistet. Insgesamt hat das Projekt zweieinhalb Jahre gedauert, was verhältnismäßig kurz ist für einen Dokumentarfilm.

Außergewöhnlich und gelungen finde ich es, dass ihr die Aufnahmen nachvertont habt. Wie kam es zu dieser Entscheidung?

Wir wollten im Sound Design einerseits die Zuschauer:innen eintauchen lassen in diese ‚heile‘ Welt der 50er und 60er Jahre. Andererseits haben wir durch die Verfremdung der Töne auf der auditiven Ebene anklingen lassen, dass etwas nicht stimmt mit dieser Idylle. Gaston hat viele Töne, die es auf der Bildebene gab oder die mit Haushalt verbunden waren (z.B. Wasser, Glas) als Ausgangspunkt genommen und damit nicht nur Soundeffekte erzeugt, sondern auch Musik komponiert. Uns war immer wichtig, die Zuschauer:innen nicht in einen emotionalen Zustand zu drängen, sondern ihnen Raum zu geben, über das, was sie sehen und hören, nachdenken zu können.

Wie hat Deine Familie den finalen Film aufgenommen?

Meine Eltern waren sehr stolz auf mich und ich glaube, die Premiere des Films hat meinem Vater gezeigt, dass das, was er erlebt hat, kein Einzelfall war, sondern dass viele Menschen ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Meine Großmutter konnte leider nicht nach Leipzig kommen, da sie dafür nicht mehr die Kraft hat. Sie ist einerseits stolz auf mich, andererseits ist sie mit der öffentlichen Aufmerksamkeit auch etwas überfordert. Aber insgesamt hat meine Familie den Film sehr positiv aufgenommen, auch wenn es für uns alle kein leichter Prozess war.

Kannst Du mir noch ein wenig von Dir erzählen und wie Du zum (Dokumentar-)Film gekommen bist?

Ich habe Sozialanthropologie studiert und wir hatten im Studium einen Schwerpunkt auf visueller Anthropologie. Ich habe in diesem Rahmen viele Dokumentarfilme gesehen und diskutiert, mein Fokus lag aber damals auf Photographie. Dann habe ich während meiner Promotion – eher aus der Not heraus – einen Dokumentarfilm geschnitten und das hat mir sehr viel Spaß gemacht. Ich wusste, dass ich nicht an der Uni bleiben will und habe dann nochmals Montage an der Filmuniversität in Babelsberg studiert. Dort habe ich Jakob kennengelernt, mit dem ich unsere Produktionsfirma Majmun Films gegründet habe, um unsere eigenen Stoffe zu realisieren. Die anthropologische Forschung hat viel mit dem Dokumentarfilme-Machen gemein und so bin ich bei dem gelandet, was mir sehr viel bedeutet.

Weißt Du schon, wann und wie man deinen Film in Deutschland sehen werden kann?

Annika Mayer auf dem DOK Leipzig

Der nächste Termin ist auf dem FilmZ Festival des Deutschen Kinos in Mainz und ich hoffe, dass der Film noch bei ganz vielen anderen Festivals in Deutschland läuft. Ich fürchte, er wird aber keinen Kinostart bekommen, da die Verleiher gerade sehr kämpfen müssen und nur Dokumentarfilme ins Kino bringen, bei denen sie sich große Besucherzahlen versprechen. 

Anmerkung: Über unsere Facebook– und Instagram-Seite von Majmun Films posten wir immer die Festivalteilnahmen und Screenings.

Hast Du schon neue Projekte geplant?

Ich arbeite weiterhin an dem Langfilm zu den strukturellen Ursachen von häuslicher Gewalt, das Projekt ist aber noch in der Anfangsphase. Gerade schneide ich noch zwei Langfilme und produziere zwei Langfilme, es gibt also genug zu tun und ich hoffe sehr, dass wir noch lange Kino-Dokumentarfilme machen können.

Die Fragen stellte Doreen Kaltenecker

Lies auch die Rezension des Films „Home Sweet Home

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