66. Internationales Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm 2023

Doreen Kaltenecker
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8.-15. Oktober 2023 / Hauptbahnhof Osthalle, CineStar, Passage Kinos, Regina Palast, Schaubühne Lindenfels, Schauburg, Cinémathèque Leipzig in der naTo, Kinobar Prager Frühling, Polnisches Institut Filiale Leipzig 

Festivalbericht: Die 66. Ausgabe des Internationalen Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm, kurz DOK genannt, fand in diesem Jahr komplett ohne Einschränkungen wieder in elf verschiedenen Leipziger Kinos und Spielstätten statt. Das Online-Angebot wurde in diesem Jahr auf einen Film pro Festivaltag beschränkt. Unter der Leitung von Christoph Terhechte hatten die zahlreichen Besucher:innen vor Ort die Wahl zwischen 59 Lang- und 141 Kurzfilme aus 60 Ländern. Dabei war der Animationsfilm noch stärker vertreten als in den Jahren davor und bekommt nun auch seine eigene Programmreihe samt Preis. Insgesamt wurden neun Tauben und 15 weitere Preise im Wert von 54.750€ vergeben.

Internationaler Wettbewerb Dokumentarfilm

Michael Kaltenecker

CineStar Leipzig

Der Internationale Wettbewerb mit seinen 23 Beiträgen aus 27 Ländern bildet zusammen mit dem Deutschen Wettbewerb und dem Wettbewerb Animationsfilm das Herzstück des Festivals, das aber zudem seit Jahrzehnten mit vielen Sonderreihen und gut kuratierten Reihen das Publikum abseits der Wettbewerbe begeistern kann. Als Bester Film wurde Peter Mettler neuester Film – „While the Green Grass Grows“ – mit der mit 10.000€ dotierten Goldenen Taube Langfilm ausgezeichnet. Der Regisseur, von dem noch zwei weitere Filme in einer Hommage an den Künstler zu sehen waren, erzählt hier in einer persönlichen Langzeitstudie von seinen Eltern und dem Abschiednehmen. Die Silberne Taube Langfilm erhielt Hovhannes Ishkhanyan für seine Dokumentation „Beauty and the Lawyer“. Auch hier handelt es sich um eine Langzeitbeobachtung. Der Regisseur begleitet das Paar Hasmik und Garik, der auch ab und zu als Frau Auftritte hat, bei ihrem gemeinsamen Weg mit allen Alltagshürden und Ressentiments gegen diese ungewöhnliche Beziehung. Der Kurzfilm „An Asian Ghost Story“ von Bo Wang erhielt die Goldene Taube Kurzfilm. Sein ungewöhnlicher 37-Minüter verbindet Archivaufnahmen, mit realen Interviews und vermeintlichen inszenierten Geisterszenen und erzählt so auf ungewöhnliche Weise auch von der Geschichte Chinas und Hongkongs. Auch „Kumva – Which Comes from Silence“, der den Preis der Interreligiösen Jury erhielt, erzählt von historischen Ereignissen des Landes. Die Kinder von Opfern und Tätern des im Jahr 1994 stattgefundenen Genozids in Ruanda erzählen von ihren Erinnerungen und was das mit ihnen und dem Land gemacht hat. Neben den Gewinnern konnte man zwei weitere herausragende Filme entdecken. Zum einen konnte man den neuesten Film von Nikolaus Geyrhalter („Matter out of Place“) – „Stillstand“ – sehen, der die Corona-Pandemie in Österreich von März 2020 bis Dezember 2021 dokumentiert. Der andere Film, „Suzanne from Day to Day“, stammt aus der Hand der beiden Filmemacher Stéphane Manchematin und Serge Steyer und erzählt von der freiwilligen Isolation der 91-jährigen Suzanne, die zurück in ihres Geburtshauses zog, der abgeschieden in den Vogesen liegt. Die alte Dame mit ihrer Hemdsärmeligkeit und ihrem Kichern schließt man als Publikum sofort ins Herz, so dass man sich schnell fragt, ob man Suzanne folgen sollte, bei der Frage nach einem guten Leben.

Weitere Preise im Internationalen Wettbewerb

  • Silberne Taube Kurzfilm (1.500 €) bester kurzer Dokumentarfilm eines Regietalents im Nachwuchsbereich: „30 Kilometres per Second
  • Preis Leipziger Ring: „Where Zebus speak French

Internationaler Wettbewerb Animationsfilm

Michael Kaltenecker

Passagekino Leipzig

In dem neu ausgerufenen Wettbewerb um den Animationsfilm konnte man 5 Lang- und 22 Kurzfilme aus 18 Ländern sehen. Als Gewinner der Goldenen Taube für den Besten Langfilm ging der chinesischen 2D-Animationsfilm „No Changes Have Taken In Our Life“ von Xu Jingwei hervor, der darin schildert, wie es sich anfühlt, nicht zu wissen, wohin man gehört und berührt mit seiner Schonungslosigkeit wie auch mit seiner Lakonie. Er war mit 43 Minuten der kürzeste der Langfilme und setzte sich hier gegen Beiträge wie die beiden Coming-of-Age-Geschichten „When Adam Changes“ aus Frankreich und „Tender Metalheads“ aus Spanien durch. Der zweite Film stammt von den beiden Regisseuren Joan Tomàs Monfort und Carlos Pérez-Reche und erzählt in einem vereinfachten 2D-Animationsstil von den Schwierigkeiten des Erwachsenwerdens und der großen Liebe zur Metal-Musik als junger Mann in den 90er Jahren. Auch „Sultana’s Dream“ ist eine Art Coming-of-Age-Geschichte. Die junge Heldin reist nach Indien, um mehr über ihre Wurzeln zu erfahren und lernt gleichermaßen Selbstermächtigung und den Umgang mit patriarchalischen Strukturen und Misogynie. Der französische Spielfilm „Knit’s Island“ wählt eine andere Art des Erzählens und begibt sich in ein Online-Multiplayer-Spiel, um dort die Menschen und was sie umtreibt kennenzulernen. 

Michael Kaltenecker

Passagekino Leipzig

Auch der Animationskurzfilm hatte viele Erzählarten zu bieten. Als Sieger ging der polnische Kurzfilm „Such Miracles Do Happen“ hervor, der in störrischen Stop-Motion-Bildern von ungesunden familiären Verhältnissen erzählt. Diese Technik setzte auch der ungewöhnliche „Compound Eyes of Tropical“ aus Taiwan ein, um eine Flussüberquerung zum Leben zu erwecken. Auch historische Stoffe wurden im Kurzfilm behandelt – so erzählt der französische Animationsfilm „Margarethe 89“ aus dem Umsturzjahr 1989 in der DDR. Der Mix-Technik-Film „Au revoir, Pugs“ erzählt dagegen von einer persönlichen Recherche, um den Verbleib der Hunde aus der Kindheit. In „It’s Just a Whole“ beschäftigt sich die Regisseurin Bianca Scali auf sehr berührende Weise mit einer Krebsvorsorgemaßnahme. Die beiden Animationsfilme „Drijf“ aus Belgien und „Sewing Love“ aus Japan finden eine eigene Bildsprache, um toxische Beziehungen ins Bild zu rücken.

Deutscher Wettbewerb Dokumentarfilm

Michael Kaltenecker

CineStar Leipzig

Wie auch in den Jahren davor, ist der deutsche Dokumentarfilm genauso stark auf dem DOK vertreten wie die internationalen Beiträge. Die Goldene Taube Langfilm erhielt der Film „Einhundertvier“ von Jonathan Schörnig, der in Echtzeit eine Rettungsmission der Mission Life Line im Mittelmeer begleitet. Er konnte dabei nicht nur den Hauptpreis gewinnen, sondern wurde auch noch mit drei Partnerpreisen (Dokumentarfilmpreis des Goethe-Instituts, Filmpreis Leipziger Ring und ver.di-Preis für Solidarität, Menschlichkeit und Fairness) bedacht. Der DEFA-Förderpreis ging an Julia Charakter für ihren Film „Die Kinder aus Korntal“, der die Missbrauchsfälle eines kirchlichen Kinderheims in Baden-Württemberg thematisiert. Um eine andere Art von Missbrauch ging es auch in der gelungen Dokumentation „Home Sweet Home“ von Annika Mayer, die darin ihre Großmutter über ihre Ehe mit einem gewalttätigen Ehemann befragt und als Kontrast dazu das fröhliche Super-8-Material der Familie präsentiert. Der Film „Die Ausstattung der Welt“ entführt das Publikum in die Filmfundus von Berlin und geht gleichzeitig kolonialen Fragen nach. Auch acht Kurzfilme wurden im deutschen Wettbewerb gezeigt. Die Goldene Taube Kurzfilm gewann der Film „getty abortions“ von Franzis Kabisch. Der thematisiert die Verwendung von Bildern und die Stigmatisierung von Schwangerschaftsabbrüchen auf eine sehr charmante und persönliche Weise.

Publikumswettbewerb

Michael Kaltenecker

CineStar Leipzig

Seit erst drei Jahren gibt es einen weiteren Wettbewerb des DOK Leipzig. Der ebenfalls von einer Jury vergebene Preis erhielt die Dokumentation „The Mother of All Lies“ von Asmae El Moudir. Neben dem Gewinner gab es noch viele weitere sehr starke Dokumentationen in dieser Reihe zu sehen. Sei es die Dokumentation „Eat Bitter“ von Pascale Appora-Gnekindy und Ningyi Sun, die von der Arbeit eines Sandtauchers und eines chinesischen Bauleiters in der Zentralafrikanischen Republik berichten oder die einfühlsame amerikanische Dokumentation „A Still Small Voice“, in der Regisseur Luke Lorentzen eine Seelsorgerin bei ihrer Arbeit im Mount Sinai Hospital in New York begleitet und der bereits in Sundance dafür ausgezeichnet wurde. Noch zwei besondere Filme stachen aus dem Programm heraus. Zum einen die schwedische Dokumentarfilm „The Gullspång Miracle“ von Maria Fredriksson, die offen mit den Mitteln der Inszenierung umgeht, Versatzstücke von True Crime einbaut und mit viel Humor eine verwirrende Familiengeschichte erzählt. Der andere Film ist der neuste Film der beiden Filmemacher:innen Florian Kofler und Julia Gutweniger („Sicherheit123“). In „Vista Mare“ beobachten sie die gesamte Saison die Arbeiter:innen und deren Arbeit an den überfüllten Touristenorte und Stränden der Adria. In ihrem gewohnten Stil ohne Interview mit statischen Kamerapositionen liefern sie ein klares Statement ab und ziehen das Publikum sofort in ihren Bann.

Weitere Reihen und Sonderprogramme

Michael Kaltenecker

Schauburg Leipzig

Neben den vielen Wettbewerbsreihen hatte das DOK weiterhin viel zu bieten. So gab es auch in diesem Jahr wieder verschiedene Programme für Kinder jeden Alters, in denen sie Kurzfilme wie „Tümpel“, „Kuchenballade“, „Somni“ und „Schleudergang“ entdecken konnten. Aber es wurde auch der Dokumentarfilm „Planet B“ von Pieter Van Eecke gezeigt. Darin begleitet er ein Mädchen und ihre beste Freundin in den Niederlanden, welche mit den Klimaprotesten erwachsen werden. In der Reihe ‚Panorama Mittel- und Osteuropa‘ stach der Film „Wer, wenn nicht wir? Der Kampf für Demokratie in Belarus“ heraus, der drei Protestierende bei ihren Bestrebungen in ihrer Heimat zeigt. Darüber hinaus wurde das Programm wie immer mit Retrospektiven (u.a. zu den Volksaufständen im Kalten Krieg) und Animationsfilmsonderreihen, beispielsweise zu Anne Isensee („Megatrick“), die dieses Jahr in der Jury saß, abgerundet. 

weitere Preise:

  • MDR-Filmpreis: „The Last Relic“ 
Michael Kaltenecker

Schauburg Leipzig: Kinokatze

Fazit: Auch in diesem Jahr war das 66. DOK Leipzig vollgepackt mit vielen Filmen, die dem Publikum einen breit aufgestellten Blick auf die Welt und zu vielen aktuellen Themen schenkten. Aber neben den vielen politischen und ernsten Themen erzählt das Festival auch viele Geschichten am Wegesrand, gibt private Einblicke, bringt zum Lachen und lässt die Zuschauer:innen oft mitfühlen. Auf dem DOK ist immer Platz auch für die verschiedensten Formen von Erzählarten, sei es im Dokumentar- oder Animationsfilm. Schön ist, dass man mit der eigenen Reihe dem zweiten Format noch mehr Raum gegeben hat und so hatte das einwöchige Festival garantiert für jeden Geschmack was parat.

Trailer des 66. Internationales Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm 2023:

geschrieben von Doreen Kaltenecker

Quellen:

Liste aller gesehenen Filme:

  • „30 Kilometres per Second“ (OT: „30 kilometriä sekunnissa“, Finnland, 2023, Regie: Jani Peltonen)
  • „A Still Small Voice“ (OT: „A Still Small Voice“, USA, 2023, Regie: Luke Lorentzen)
  • „An Asian Ghost Story“ (OT: „An Asian Ghost Story“, Niederlande/Hongkong, 2023, Regie: Bo Wang)
  • „Au revoir, Pugs“ (OT: „Au revoir, Pugs“, Italien/Dänemark, 2023, Regie: Brett Allen Smith)
  • „Beauty and the Lawyer“ (OT: „Beauty and the Lawyer“, Armenien/Frankreich, 2023, Regie: Hovhannes Ishkhanyan)
  • „Compound Eyes of Tropical“ (OT: „Re dai fu yan“, Taiwan, 2022, Regie: Zhang Xu Zhan)
  • „Die Ausstattung der Welt“ (OT: „Die Ausstattung der Welt“, Deutschland, 2023, Regie: Susanne Weirich und Robert Bramkamp)
  • „Die Kinder aus Korntal“ (OT: „Die Kinder aus Korntal“, Deutschland, 2023, Regie: Julia Charakter)
  • „Drijf“ (OT: „Drijf“, Belgien, 2023, Regie: Levi Stoops)
  • „Eat Bitter“ (OT: „Eat Bitter“, Zentralafrikanische Republik/China, 2023, Regie: Pascale Appora-Gnekindy und Ningyi Sun)
  • „Einhundertvier“ (OT: „Einhundertvier“, Deutschland, 2023, Regie: Jonathan Schörnig)
  • „getty abortions“ (OT: „getty abortions“, Deutschland/Österreich, 2023, Regie: Franzis Kabisch)
  • Home Sweet Home“ (OT: „Home Sweet Home“, Deutschland, 2023, Regie: Annika Mayer)
  • „It’s Just a Whole“ (OT: „It’s Just a Whole“, Deutschland, 2023, Regie: Bianca Scali)
  • „Knit’s Island“ (OT: „Knit’s Island“, Frankreich, 2023, Regie: Ekiem Barbier, Guilhem Causse und Quentin L’helgoualc’h)
  • „Kuchenballade“ (OT: „Kuchenballade“, Deutschland, 2022, Regie: Meike Fehre)
  • „Kumva – Which Comes from Silence“ (OT: „Kumva – Ce qui vient du silence“, Frankreich, 2022, Regie: Sarah Mallégol)
  • „Margarethe 89“ (OT: „Margarethe 89“, Frankreich, 2023, Regie: Lucas Malbrun)
  • „No Changes Have Taken In Our Life“ (OT: „Hai nei yang“, China, 2022, Regie: Xu Jingwei)
  • „Planet B“ (OT: „Planet B“, Belgien/Niedelrande, 2023, Regie: Pieter Van Eecke)
  • „Schleudergang“ (OT: „Schleudergang“, Deutschland, 2022, Regie: Gurli Bachmann)
  • „Sewing Love“ (OT: „Sewing Love“, Japan, 2023, Regie: Xu Yuan)
  • „Somni“ (OT: „Somni“, Deutschland, 2023, Regie: Sonja Rohleder)
  • „Stillstand“ (OT: „Stillstand“, Österreich, 2023, Regie: Nikolaus Geyrhalter)
  • „Such Miracles Do Happen“ (OT: „Takie cuda się zdarzają“, Polen, 2022, Regie: Barbara Rupik)
  • „Sultana’s Dream“ (OT: „El sueño de la Sultana“, Spanien/Deutschland, 2023, Regie: Isabel Herguera)
  • „Suzanne from Day to Day“ (OT: „Suzanne jour après jour“, Frankreich, 2023, Regie: Stéphane Manchematin und Serge Steyer)
  • „Tender Metalheads“ (OT: „Heavies tendres“, Spanien, 2023, Regie: Joan Tomàs Monfort, Carlos Pérez-Reche und Juanjo Sáez)
  • „The Gullspång Miracle“ (OT: „Miraklet i Gullspång“, Schweden/Norwegen/Dänemark, 2023, Regie: Maria Fredriksson)
  • „The Last Relic“ (OT: „Viimane reliikvia“, Estland/Norwegen, 2023, Regie: Marianna Kaat)
  • „The Mother of All Lies“ (OT: „Kadib abyad“, Marokko/Ägypten/Saudi-Arabien/Katar, 2023, Regie: Asmae El Moudir)
  • „Tümpel“ (OT: „Tümpel“, Schweiz, 2023, Regie: Lena von Döhren und Eva Rust)
  • „Vista Mare“ (OT: „Vista Mare“, Österreich/Italien, 2023, Regie: Florian Kofler, Julia Gutweniger)
  • „Wer, wenn nicht wir? Der Kampf für Demokratie in Belarus“ (OT: „Wer, wenn nicht wir? Der Kampf für Demokratie in Belarus“, Deutschland, 2023, Regie: Juliane Tutein)
  • „When Adam Changes“ (OT: „Adam change lentement“, Kanada, 2023, Regie: Joël Vaudreuil)
  • „Where Zebus speak French“ (OT: „Sitabaomba“, Frankreich/Madagaskar/Deutschland/Burkina Faso, 2023, Regie: Nantenaina Lova)
  • „While the Green Grass Grows“ (OT: „While the Green Grass Grows“, Schweiz/Kanada, 2023, Regie: Peter Mettler)

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