Vierzehn Fragen an Thi Hien Mai und Tim Ellrich

Letzte Artikel von Doreen Kaltenecker (Alle anzeigen)

Interview: Im Zoom-Gespräch mit den beiden FilmemacherInnen Thi Hien Mai und Tim Ellrich konnten wir mehr über ihre Dokumentation „Mein Vietnam“ erfahren, der seine Premiere auf dem Hot Docs Canadian International Documentary Festival in Toronto und beim 42. Filmfestival Max Ophüls Preis seine Deutschlandpremiere feierte. Sie portraitieren in dem Film die Eltern der Regisseurin und wie sie sich in Deutschland mit einer stetigen Verbindung nach Vietnam eingerichtet haben. Im Interview mit den beiden erzählen sie, wie die Eltern das Projekt aufgenommen haben, was bei der Kameraarbeit wichtig war und wie man auch mit einem kleinen Team solche Projekte realisieren kann. 

Wie hat alles angefangen – Wie seid ihr auf die Idee gekommen, einen Film über deine Eltern zu machen? 

Hien: Es hat mich schon beschäftigt, dass ich zwischen zwei Kulturen aufwachse und hier liegt der Ursprung für den Film. Dieses Thema habe ich auch schon in meiner Studienzeit aufgegriffen. Ich hab Kunstgeschichte und Kunstpädagogik studiert. In diesem Rahmen habe ich schon kleinere grafische und filmische Arbeiten u.a. zu ihrer Fluchterfahrung und dem Angekommensein (oder eben nicht) in Deutschland gemacht. Zusammen mit Tim hat sich die Idee dann im Austausch gefestigt, dass man daraus einen Film machen könnte, gerade was den Aspekt der digitalen Vernetzung nach Vietnam angeht. Das fanden wir besonders interessant.

Tim: Als ich Hiens Eltern kennenlernen durfte, fand ich es sehr faszinierend wie digital sie sind. Was in diesem Alter in Deutschland eher untypisch ist. Die fast sechzigjährigen leben ihren Alltag mit einem Laptop, der ständig an ist und die Verbindung nach Vietnam hält. Das war sehr faszinierend und hierüber wollten wir den Film drehen. 

Wie haben deine Eltern auf die Idee reagiert? Du hast sie ja bereits früher in Projekte eingebunden, aber ein langer Dokumentarfilm ist nochmal ein umfangreicheres Projekt.

Hien: Absolut. Ihre erste Reaktion, war die Frage, ob wir verrückt sind. Sie fragten sich, ob ihr Leben überhaupt interessant genug für einen Film ist. Doch die Schwelle, Ja zu sagen war niedrig, weil die Kamera (sei es Webcam oder Facetime) schon zu ihrem Leben gehört. Deswegen sagte sie schnell zu.

Tim: Aber ich glaube hätten sie gewusst, wieviel Zeit das Filmen einnimmt, hätten sie nicht Ja gesagt. Aber das war uns allen ja nicht bewusst. Wir mussten ja selbst erst einmal das Dokumentarfilmen lernen. Den richtigen Stil zu entwickeln – Direct Cinema, also sehr intim, aber ohne Interviews, so dass immer wieder Material fehlte. So drehten wir über drei Jahre immer wieder und das Projekt wurde dann zur Familiensache.

Hien: Das stimmt. Sie haben sich auch sehr viel Sorgen gemacht, weil wir ja nebenher trotzdem Geld verdienen mussten. Meine Eltern sind ja wirklich ein klassischer Arbeiterhaushalt und sie konnten sich das nicht vorstellen, warum man so viel Zeit darin investiert und wollten einfach nur das Beste für uns. Deswegen machten sie sich ständig Sorgen, da wir das Projekt ja einmal abschließen müssten.

Wie viel Material ist entstanden?

Tim: Wir haben gar nicht so viel Material aufgenommen – vielleicht so 60 bis 70 Stunden. Wir haben im Vorfeld viel Zeit damit zugebracht, erst einmal herauszufinden, wie die täglichen Abläufe sind und wo man da am besten die Kamera platziert. Zudem sollte es sich natürlich anfühlen, dass ich gerade filme, also am besten sollten sie vergessen, dass dort eine Kamera läuft.

Hien: Das besonders zeitintensive war, erst einmal die Beziehung aufzubauen, so dass Tim ein Teil der Familie wurde. Hinzu kommt natürlich auch die Sprachbarriere, so dass man sich erst langsam aneinander annähern musste. Das hat viel Zeit gekostet.

Tim: Wir haben sofort angefangen zu filmen. Aber wir haben ja auch nicht gewusst, was für eine Reise auf uns wartet. Anfänglich dachten wir, wird es sich mehr über die Karaoke-Welt drehen, aber der Fokus verlagerte sich immer mehr auf ihren Beziehungskonflikt, der mit dem Aspekt einhergeht, zwischen zwei Welten zu leben. Wir haben uns dem eigentlichen Thema angepasst. Das macht auch das dokumentarische Arbeiten aus. Es ist nicht wie beim szenischen Arbeiten, wo Du eine Idee vermittelst, sondern du löst Dich von deinen Ideen und hörst zu.

Wer hat von euch die Kameraarbeit gemacht?

Tim: Bis auf wenige Ausnahmen stand ich hinter der Kamera.

Hien: Die Aufteilung war auch besser so. Tim verstand durch die Sprachbarriere garnicht, worum es sich gerade handelte und so konnte er auch schwierige Situationen filmen. Ich konnte dann auch ab und zu mal rausgehen, wenn sich meine Eltern stritten oder ein Konflikt einfach zu groß war. So war Tim zum richtigen Zeitpunkt vor Ort und ich musste nicht dabei sein. Das hat dann sehr gut funktioniert.

Tim: Diese Arbeitsweise funktioniert auch so gut, weil wir ein kleines Team waren. Also wir waren die Antithese zum normalen Kinofilm, denn wir waren meistens nur zu zweit. Ab und zu waren wir zusammen mit Leopold Pape, der als Tonmann und Produzent fungierte, vor Ort. 

Hien: Meine Eltern fragen auch immer noch nach Leopold. Das Projekt hat uns zusammengeschweißt.

Tim: Insgesamt war das ein sehr intimes Arbeiten. Außerdem zeigt es, dass jeder Filme machen kann. Man braucht nicht viel für die Realisierung eines Projekts. Der begrenzte Platz hätte es auch nicht anders zugelassen. Mit einem größeren Team ginge auch die Intimität flöten.

Hien: Aufgrund der Enge der Wohnung und weil alles auf kleinem Raum spielte, brauchte man mal eine Auszeit und entschied sich dazu, zu einem anderen Zeitpunkt weiter zu drehen. Auch meinen Eltern taten die Pausen sehr gut.

Haben deine Eltern auch manchmal gesagt, dass jetzt bitte nicht mehr gefilmt werden soll?

Hien: Ja, vor allem mein Vater.

Tim: In manchen Situationen habe ich dann trotzdem weiter gefilmt, gelächelt und erklärt, dass wir das dann nicht an einem anderen Tag wiederholen müssen. Sie wollten auch gerne, dass wir den Film beenden können. Natürlich gab es Grenzen und wir waren niemals pietätlos. Mit der Zeit ist das Leben zusammen mit der Familie und dem Filmen immer mehr verschwommen. So kam es dazu, dass ich mit ihnen aß und dann rüber zur Kamera ging. So vermischte sich alles.

War es für Dich, Tim, schwierig zu filmen ohne zu wissen, was gesagt wurde?

Tim: Ich hatte mir schon auch ohne das Drehen vorher angewöhnt, ständig nachzufragen, worum es in den Gesprächen geht und Hien hat es für mich zusammengefasst. So war das dann auch beim Drehen. Obwohl man die Stimmung auch spüren kann, war es trotzdem manchmal überraschend was rausgekommen ist, vor allem wenn Hien nicht anwesend war. 

Hien: Manchmal nutzte mein Vater auch die Kamera als Gesprächspartner. Sprich er hat sich nicht direkt an Tim gewendet, aber der Kamera seine Gefühle geschildert. Dieses Material war dann besonders überraschend für mich zu sehen. 

Wie ging es nach dem Dreh weiter – wie verlief der Schnitt?

Hien: Der erste Schritt war, dass ich alles erst einmal übersetzen musste, so dass Tim und unser Editor Tobias Wilhelmer überhaupt erst verstehen konnten, worum es in den Szenen ging. 

Tim: Ja, das war der erste Schritt und ziemlich zeitintensiv, da Hien ja nebenbei auch noch arbeiten musste. Als alles übersetzt und die Untertitel vorhanden waren, konnten Tobias, der als Österreicher auch kein vietnamesisch sprach, und ich uns zusammen hinsetzen, das Beste raussuchen und einen roten Faden entwickeln. Die Postproduktion hat so ein Jahr gedauert, wobei wir uns nicht durchgehend, sondern immer mal wieder in Blöcken daran gesetzt haben. 

Gab es visuelle Leitlinien für euren Film?

Tim: Mir waren tableauartige Shots und eine statische Kamera wichtig. In unserem Film kommt keine Handkamera vor. Aus ästhetischen Gründen haben wir uns von Anfang für feste Kamerapositionen entschieden. Das erzeugt im Film auch, meiner Meinung nach, einen extremen Sog. So besitzt er beinah szenische Qualität. Trotzdem war es auch wichtig Objekte, welche oft vorkommen, so wie das Sofa, immer wieder neu zu erkunden. Wir mussten also die Balance zwischen wiederkehrender Positionierung und Abwechslung finden, denn es sollte sich nicht repetitiv anfühlen. 

Tim, Du hast ja bisher viele Kurz-Spielfilme gedreht („Die Badewanne“, „Am Fenster“, „Sara the Dancer“) und hast jetzt hier Deinen ersten dokumentarischen Film realisiert. Wie war es vom Spielfilm zum Dokumentarischen zu wechseln?

Tim: Gerade am Anfang fiel es mir schwer, denn ich wollte mehr Kontrolle ausüben, indem sie bestimmte Themen ansprechen oder sich auf die ein oder andere Weise positionieren sollten. Das ist total gescheitert.

Hien: Ja, das hat garnicht geklappt und ging auch nicht mit mir.

Tim: Genau, so musste ich das erst einmal ablegen. Ich konnte durch die Arbeit an dem Film viel darüber lernen, was Filmemachen ausmacht und was Authentizität, Ehrlichkeit und ‚Wahrheit‘ bedeuten. So ist vor allem das Zuhören essentiell wichtig. Das macht Dokumentarfilme viel tiefergehender als Spielfilme. Man baut ein echtes Verhältnis zu den Menschen vor der Kamera auf. Es sind eben nicht nur Figuren. Ich habe für meine neuen Spielfilme viel mitgenommen aus dieser Erfahrung und ich glaube zu wissen, was man besser machen kann.

Dann gehst Du jetzt vermutlich zurück zum Spielfilm oder wird es noch weitere Ausflüge ins Dokumentarische geben?

Tim: Ich denke irgendwann würde ich gern über meinen Vater, wenn er älter ist, einen Dokumentarfilm drehen. Aber das sind alles nur abstrakte Ideen. Zur Zeit arbeite ich an meinem Abschlussfilm und meinem ersten Kinofilm. Ich habe das große Glück, dass mein Film vom ‚Kleinen Fernsehspiel‘ des ZDF und dem Redakteur Burkhard Althoff produziert wird. Es ist auch ein Film über Familie, über meine Familie, aber als Spielfilm. Es basiert auf meinem schizophrenen Onkel, der bei meinen Großeltern lebt. Wir haben gerade die Absegnung der zweiten Drehbuchfassung erhalten und planen Ende dieses Jahres oder Anfang des nächsten Jahres zu drehen. 

Hien, wie sieht es bei Dir aus, wirst Du noch weitere Filme machen?

Hien: Nein, ich denke, das war mein einziger Ausflug in den Film. Ich arbeite ja in einem Filmmuseum und bin in ein interkulturelles Projekt involviert. Das liegt mir mehr – Räume schaffen, in denen andere Menschen eine Stimme haben. Ich arbeite auch in der Kunstvermittlung und gebe so einen Rahmen, wo man sich ausdrücken kann. Ich selbst brauche nicht so viel Aufmerksamkeit. Der Dokumentarfilm war ein tolles Erlebnis, es hat uns zusammengeschweißt und ich bin stolz, dass wir es gemacht haben. Aber jetzt brauche ich eine Pause. 

Deine Eltern haben den Film bestimmt schon gesehen? Was sagen sie dazu?

Hien Ja, haben sie, aber nicht als erste. Ich war auch nicht dabei, sondern sie haben ihn sich mit meinem Bruder und seiner Familie angeschaut. Direkt sagen konnten sie nicht, ob es ihnen gefallen hat. Sie waren erst einmal überrascht, dass er so aussehen würde. Es war eine Mischung aus Melancholie aber auch Stolz auf unsere Arbeit. Sie haben auch erkannt, dass wir den Film auch irgendwie für sie gemacht haben. Aber er hat auch andere Menschen berührt, u.a. hat meine Schwägerin uns danach erzählt, dass sie Weinen musste. Es war so eine Art Heilungsprozess für sie. Das stellten wir danach immer wieder fest: MigrantInnen (nicht nur aus Vietnam) konnten sich sehr gut in den Film einfühlen.

Tim: Wir haben dann auch nach dem Filmfestival Max Ophüls Filmpreis schönes Feedback bekommen, in dem sie uns sagten, dass es für sie einer der wichtigsten Filme der letzten Jahre war. Da waren wir sprachlos. Wir hatten aufgrund des persönlichen Stoffes nicht vermutet, dass es vielen anderen Menschen auch etwas bedeutet.

Hien: Und meine Eltern wurden letztens von den Nachbarn angesprochen: „Gibt’s eigentlich einen Dokumentarfilm über Sie?“ Und dann war es so: „Ja“. Also jetzt kommt so langsam, dass sie wirklich begreifen, dass der Film doch vielleicht Wellen schlägt und dass er auch ein größeres Publikum findet.

Mich würde noch interessieren, wie es Deinen Eltern jetzt in der Corona-Zeit ergeht?

Hien: Bei uns ist es ein kleiner Inside-Joke, dass die Eltern meinen, dass sich eigentlich nicht viel verändert hat. Sie gehen ihrer geregelten Arbeit weiterhin nach, sind viel in der Wohnung und bekommen ab und zu Besuch. Was sich für uns anders anfühlt, ist für sie Alltag. So kann man sich vielleicht das Leben in 15 bis 20 Jahren vorstellen.

Tim: Es ist ja auch der Einsamkeit des Alters. Je älter man wird, das erlebt man ja bei vielen Menschen, in Grundzügen auch bei meinen Eltern, um so weniger wichtig sind Freundschaften. Es gibt im Alter eine Rückbesinnung auf die Familie, das fängt ja schon mit 30 an und wenn dann die Kinder aus dem Haus ist, sind die Eltern oft allein.

Habt ihr denn Pläne, wo man einen Film als nächstes sehen kann oder wie es dann weitergeht mit dem Film nach den Festivals?

Hien: Also in Deutschland ist der nächste Schritt das Lichter Filmfest (27.4.-2.5.2021). Es ist hier ein Frankfurter Filmfest und ich glaube, das wird dann auch Video on Demand sein oder vielleicht hybrid. Aber wir laufen auch bei anderen Festivals außerhalb Deutschlands u.a. in Dublin. 

Tim: Nach den Festivals müssen wir mal schauen, wie es weitergeht. Wir sind mit einem Fernsehsender im Gespräch, so dass der Film vielleicht eine Fernsehpremiere erhält. Es ist ja auch schwer Filme zu vermarkten in dieser Zeit. Aber wir sind sehr gespannt, wie es noch weitergehen wird und auf einigen Festivals in diesem Jahr wird man den Film noch sehen können.

Die Fragen stellte Doreen Matthei

Lies auch die Rezension des Kurzfilms „Mein Vietnam“

Kommentar verfassen