Zehn Fragen an Dawid Nickel

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Jakub Socha

Interview: Im Gespräch mit dem polnischen Regisseur Dawid Nickel konnten wir mehr über seinen Spielfilm „Love Tasting“ (OT: „Ostatni komers“), der auf dem 31. Filmfestival Cottbus im Programm ‚U18 Wettbewerb Jugendfilm‘ lief, erfahren, wie die Geschichten aus verschiedenen Quellen zusammen kamen, warum er sich für die episodenhafte Erzählstruktur entschied und wie das Leben und Instagram die Bilder beeinflussten. 

The original english language interview is also available.

Wie kam es zu dem Skript von „Love Tasting“ – wie viele wahren Geschichten stecken darin?

Als ich an die Filmhochschule kam, war ich auf der Suche nach einer Geschichte in mir, die mich zum Schreiben eines Drehbuchs inspirieren würde. Alles begann mit einer Idee, die ich als Kurzgeschichte zu Papier bringen wollte, einer Geschichte, die ich als Teenager erlebt hatte. Das ist die Rolle von Tomek im Film. Ich wollte die erste Faszination beschreiben, die ich in meiner Heimatstadt Kędzierzyn Koźle (einer mittelgroßen Stadt in Polen) erlebt hatte. Ich habe eine Zeit lang an dieser Geschichte in Form eines Kurzfilms gearbeitet. Leider konnte ich ihn nicht finanzieren, und ich verlor einen großen Teil meines Interesses am Kurzfilmemachen. 

Da ich in der Schule Testszenen gedreht habe, habe ich zwei Nicht-Schauspieler eingeladen mitzumachen. Einer von ihnen war Michał Sitnicki, der hat mir die Geschichte über seine Affäre mit seiner Nachbarin, einer zehn Jahre älteren Frau, erzählt. Das hat mich dazu inspiriert, ein gemeinsames Porträt von jungen Menschen in einer Kleinstadt zu schaffen. Deshalb habe ich zum Abschluss der Geschichte Teile aus Ania Cieplaks Roman „Es muss sauber sein“ [„Ma być czysto“, 2016] eingefügt. Auch Ania wurde beim Schreiben dieses Buches von einer echten Heldin inspiriert! Man könnte sagen, dass jede der Geschichten wahr ist. 

Erzähl mir bitte mehr zur Erzählstruktur – der Film besteht vor allem aus Episoden und nur hier und da berühren sich die Erzählstränge.

Die Erstellung der Filmstruktur war sowohl beim Schreiben des Drehbuchs als auch beim Schnitt eine große Herausforderung. Das Drehbuch enthält viele Szenen, in denen die Schauspieler am Set improvisieren konnten. Beim Schnitt mussten wir einen Weg finden, die Geschichten so zu erzählen, dass sie das Interesse [der Zuschauer] wecken. Die Geschichten waren schon im Drehbuchstadium episodisch – sie waren nur durch eine Stadt, eine Schule und ein Ereignis, den Abschlussball, miteinander verbunden. Ich denke, dass diese drei miteinander verbundenen Geschichten dem Film eine faszinierende Struktur verliehen haben. Es war alles sehr lebendig, aber ich denke auch, dass diese Situationen zum Leben einer bestimmten Gruppe von Figuren gehören. Alles ist episodenhaft und flüchtig.    

 In welchem Rahmen und über welchen Zeitraum ist Dein Film entstanden?

Es hat lange gedauert, den Film zu entwickeln, seit ich den Kurzfilm geschrieben habe, denn ich habe ihn in der Schule entwickelt und dann neue Handlungsstränge mit neuen Figuren hinzugefügt. Er ist definitiv im Kontext der kontroversen Situation von LGBT+-Menschen in Polen entstanden und damit meine ich die LGBT-freien Zonen, die in kleineren Städten aufgetaucht sind. Das war einer der Gründe, warum ich meine Geschichte aufschreiben und zeigen wollte. Die Geschichte einer nicht-normativen Person aus einer kleineren Stadt. In „Love Tasting“ geht es aber nicht nur um die Suche nach der eigenen Identität. Es berührt auch das Thema des mangelnden sexuellen Bewusstseins in unserem Land. Ich hatte das Gefühl, dass wir uns als Land in eine völlig falsche Richtung bewegen. Der Mangel an Gesprächen über Sexualität und Identität mit Teenagern hat mich erschreckt. Ich kann immer noch neue Kommentare im Internet finden, in denen es heißt, dass ich ‚eine soziale Pathologie gezeigt habe und Polen ganz anders aussieht‘.

Hast Du Deinen Film speziell für ein jüngeres Publikum konzipiert?

 Ich habe beim Schreiben des Drehbuchs und beim Betreten des Drehorts keine Annahmen getroffen. Ich glaube, dass der Film von Menschen unterschiedlichen Alters gesehen werden wird. Er hat Preise von der Jungen Jury erhalten. Dennoch habe ich viele Reaktionen von Menschen aller Altersgruppen erhalten, die den Film mit Nostalgie betrachten, und er funktioniert auch bei ihnen! Ich denke, dass der Geschmack der Liebe zeitlos ist.

Deine Bildsprache ist treffsicherer und sehr gut gewählt. Was lag Dir visuell am Herzen? Warum hast Du Dich für dieses Format entschieden? Wie wichtig war Dir Realitätsnähe?

Ich wollte polnische Wohnsiedlungen mit Wohnblöcken auf eine sehr realistische, aber dennoch ‚Instagram-artige‘ Weise zeigen. Deshalb habe ich dieses Format gewählt. Farben sind für mich sehr wichtig, ich wollte, dass sie die Welt meiner Figuren erschaffen, deren ‚reale‘ Welt von Grau erfüllt ist. Ich wollte, dass alles wie ein wunderschöner Traum aussieht. Und wie auf einer Party in einem Club. Ein Leben, das nachts mit Neonlichtern gefüllt ist und tagsüber durch Instagram-Filter gezeigt wird. Auf Bühnendekorationen habe ich verzichtet, die konnten wir uns wegen des knappen Budgets sowieso nicht leisten, also haben wir in echten Wohnungen gedreht. Das hat mich und Michal Pukowiec (DOP) dazu gebracht, die Farben woanders zu suchen, in der Beleuchtung. So haben wir unsere Welt aufgebaut. 

Auch die Musik spielt eine zentrale Rolle – magst Du mir mehr über die Auswahl erzählen?

Dies ist die Musik, die ich in meinem Leben gehört habe und die ich sehr mag. Sie ist nach einem sehr persönlichen Schlüssel ausgewählt worden. Diese Klänge begleiten mich in meinem Leben.

Welche Vorbilder haben Dich bei der Gestaltung und Erzählung des Films geleitet?

Sandra Drzymalska

Ich glaube, dass mich die Filme von Andrea Arnold [Anm. d. Red. „Big Little Lies“ (2019)] und Sean Baker [Anm. d Red. „The Florida Project“ (2017)] sehr inspiriert haben. Die Performance von Alex Baczyński-Jankins „Bis tausend Rosen blühen (mit Warschau im Hintergrund)“ war ebenfalls eine große Inspiration. Es ist so schwer, darüber zu sprechen, was einen Film beeinflusst. Ich denke, dass alles, was ich mir ansehe, und das ist eine ganze Menge, letztendlich das beeinflusst, was ich mache.

Die DarstellerInnen sind alle hervorragend gewählt – wie hast Du sie gefunden? Hatten sie vorher schon schauspielerische Erfahrungen gesammelt?

Jeder der Schauspieler hat seine eigene Geschichte. Nur Sandra Drzymalska hat einen Abschluss an einer Schauspielschule gemacht. Die anderen besuchten noch die Oberschule. Einige von ihnen, Nel Kaczmarek und Mikołaj Matczak, studieren jetzt Schauspiel. Michał Sitnicki habe ich auf Instagram gefunden und ich glaube nicht, dass er eine Schauspielkarriere anstrebt. Mein Schlüssel für das Casting war es, die Eigenschaften der Filmfiguren in den Schauspielern zu finden. Ich wollte auch, dass sie in etwa das Alter ihrer Figuren haben. Das war der Schlüssel.

 Ich würde gern noch mehr über Dich erfahren und wie Du zum Film gekommen bist?

Sandra Drzymalska

Vielen Dank für Ihr Interesse daran! (lacht) Ich komme aus einer relativ kleinen Stadt in Südpolen. Schon in der Mittelschule hatte ich eine Kamera, mit der ich ein paar eher langweilige Sachen gedreht habe, aber ich wusste schon, dass ich ‚Filme machen‘ wollte. Damals war ich ein Fan von Hollywood-Produktionen. Ich habe es wohl eher als ein Hobby betrachtet. Als ich den Leuten in Kędzierzyn erzählte, dass ich Filme machen wollte, hat niemand wirklich verstanden, was ich meinte. Das ist auch der Grund, warum ich meine zukünftige Rolle nicht nennen konnte. Nach der Schule hatte ich ein Jahr Pause, als ich versuchte, mir darüber klar zu werden. Ich hatte mich entschlossen, eine Filmschule zu besuchen, wo ich Filmproduktion studierte. Ich ging nach Kattowitz, und nachdem ich mir meiner selbst bewusster geworden war, stellte ich fest, dass ich meine eigenen Filme machen wollte. Gleich nach dem Abschluss dieser Schule schrieb ich Małgorzata Szumowska einen handschriftlichen Brief, in dem ich ihr mitteilte, dass ich ihre Assistentin werden wollte. So begann ich mit ihr an dem Film „Body/Ciało“ und später an „Face“ zu arbeiten. Jahr für Jahr habe ich Erfahrungen mit der Arbeit am Set gesammelt. Ich habe mein erstes Spielfilmkonzept geschrieben, Marta Habior kennengelernt, an die ich mich mit meinem Text wandte, und da ging das Abenteuer erst richtig los. 

An welchem Projekt arbeitest Du gerade?

Derzeit arbeite ich an einer Serie, die noch ein Geheimnis ist. Sobald ich vom Set weg bin, werde ich wieder in meine Themen eintauchen: die Suche nach Identität, die Erkundung der Grenzen von Männlichkeit, das Nicht-Normativ-Sein in einem so komplizierten Land wie Polen.

Die Fragen stellte Doreen Matthei
Übersetzung von Michael Kaltenecker

Lies auch die Rezension des Films „Love Tasting


Interview: In conversation with Polish director Dawid Nickel, we were able to learn more about his feature film “Love Tasting” (OT: “Ostatni komers”), which screened at the 31st Cottbus Film Festival in the ‘U18 Competition Youth Film’ program, how the stories came together from different sources, why he chose the episodic narrative structure, and how life and Instagram influenced the images. 

How did the story of “Love Tasting” come about – how many true stories are in the script?

Entering the film school, I’ve been looking for a story inside of me that would inspire me to write a screenplay. It all started with an idea that I decided to put down on paper as a short, a story that I had experienced as a teenager. It is Tomeks part in the film. I wanted to describe the first fascination that I had experienced in my hometown of Kędzierzyn Koźle (a medium size town in Poland). I worked on that story in the form of a short film for a while. Unfortunately, I could not finance it and I lost a big part of my interest in making shorts. 

As I have been filming test scenes at school, I have invited two non-actors to participate. One of them has been Michał Sitnicki who has told me a story of his affair with his neighbour, a woman ten years his senior. It has inspired me to create a common portrait of young people in a small town. That is why I added parts of Ania Cieplaks book called “It must be clean” to close the story. Ania was inspired by a real heroine when writing that book too! You could say that each of the stories is true. 

Please tell me more about the narrative structure – the film is episodic and only here and there do the storylines touch each other.

Creation of the film structure, both at the script writing and editing stage was quite challenging. The script contains a lot of scenes that allowed actors to improvise on set. During editing, we had to find a way to tell the stories, so they arouse [viewers’] interest. The stories were episodic already at the script stage – they were only connected by one town, one school, and one event, the prom ball. I think that those three interconnecting stories gave the film an intriguing structure. It all had been very lively, but I also think that those situations belong to the lives of a certain group of characters. Where everything is episodic and ephemeral.    

In what context and over what period of time was your film made?

It took a long time to develop the film since writing the short, as I have developed it in school and then added storylines of new characters to it. It was definitely created in the context of the controversial situation of LGBT+ people in Poland and by that I mean the LGBT-free zones that popped up in smaller towns. It was one of the reasons I wanted to write down and show my story. A story of a non-normative person from a smaller town. Still, “Love Tasting” is not only about looking for one’s identity. It also touches the subject of lack of sexual awareness in our country. I felt that we are heading in a very wrong direction as a country. The lack of conversation about sexuality and identity with teenagers has scared me. I can still find new comments on the internet saying that I have shown ‘social pathology and Poland looks completely different’. 

Did you conceive your film especially for a younger audience?

I made no assumptions when writing the script and entering the set. I believe the film will be viewed by people of different ages. It has received awards from the Young Jury. Still, I heard many reactions from people of all ages who watch the film with nostalgia, and it works for them too! I think that tasting love is timeless. 

Your visual language is more accurate and very well chosen. What was visually close to your heart? Why did you choose this format? How important was realism to you?

I wanted to show Polish housing estates of blocks of flats in a very realistic, yet ‘Instagram’ visual way. That is why I chose that format. Colours are of great importance to me, I wanted them to create the world of my characters, whose ‘real’ world is filled with grey. I wished it all looked like a most beautiful dream. And like at a party in a club. A life filled with neon lights at night and shown through Instagram filters during the day. I chose not to build stage decorations, we could not afford it due to a tight budget anyway, so we shot in real apartments. It made me and Michal Pukowiec (DOP) look for the colours somewhere else, in lighting. That is how we built our world. 

The music also plays a central role – can you tell me more about the selection?

This is the music that I have listened to in my life, that I like a lot. It has been chosen according to a very personal key. These sounds accompany me in my life.

Which influences guided you in the design and storytelling of the film?

I think that under my skin I have been deeply inspired by Andrea Arnold’s and Sean Baker’s films. The Alex Baczyński-Jankins’s performance “Until a thousand roses bloom (with Warsaw in the background)” has also been a huge inspiration. It is so hard to talk about what influences a film. I think that everything I watch, and there is quite a lot of it, finally influences what I do.

The actors and actresses are all excellently chosen – how did you find them? Did they have previous acting experience?

Each of the actors has his own story. Only Sandra Drzymalska has graduated from an acting college. The rest were still attending high school. Some of them, Nel Kaczmarek and Mikołaj Matczak, study acting now. I found Michał Sitnicki on Instagram and I do not think he intends to pursue a career in acting. My key for the casting has been to find the features of the film characters in actors. I also wanted them to be about the age of their characters. That was the key.

I would like to know more about you and how you got into film.

Thanks for your interest in it! [laughs] I come from a relatively small town in southern Poland. I had a camera with which I shot some rather dull stuff already in junior high school, but I already knew that I wanted to ‘make movies’. At that time, I was a fan of Hollywood productions. I must have treated it more like a hobby. When I was telling people in Kędzierzyn that I wanted to make movies, nobody really understood what I meant. That is also why I could not name my future role. I had a year off after high school when I was trying to figure it out. I had decided to go to a film school where I studied film production. I went to Katowice and after I became more self-aware, I found out I wanted to make my own films. Right after graduating from that school, I wrote a letter by hand to Małgorzata Szumowska, telling her I wanted to become her assistant. That is how I started working with her on the “Body/Ciało” film and later the “Face”. Year after year, I have gained experience with working on the set. I have written my first feature film concept, met Marta Habior whom I approached with my text and that is where the adventure really took off. 

What project are you currently working on?

I am currently working on a series that remains a mystery. As soon as I am off the set, I will immerse back in my topics: looking for identity, exploring the borders of masculinity, being non-normative in such a complicated country that Poland is.

Questions asked by Doreen Matthei

Read on the german review of the film “Love Tasting

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