“Iwans Kindheit” (1962)

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© Ministerstvo Kinematografii

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Spezial 2 / Filmkritik: Mit seinem Langfilm-Debüt “Iwans Kindheit” (OT: “Ivanovo detstvo”, 1962, RU) verschaffte sich der russische Regisseur Andrej Tarkowski sofort internationale Aufmerksamkeit. Der damals 30-jährige Regisseur wurde mit seinem Erstlingswerk nicht nur in Moskau bekannt, sondern bekam in Venedig und San Francisco Auszeichnungen dafür. Er selbst wollte mit dem Film nur herausfinden, ob er seinen eigenen poetischen Stil in Filmen trotz des konventionellen Korsetts jener Zeit umsetzen kann.

Der 12-jährige Iwan (Kolja Burtjajew) arbeitet als Späher und Kurier für die Rote Armee im Zweiten Weltkrieg. Durch seine tragische Vorgeschichte und die fehlende Kindheit ist Iwan abgehärtet und möchte, nachdem er im Dnjepr-Gebiet auf die Rote Armee gestoßen ist, nicht im Hinterland bleiben, wie es sich die Männer vor Ort wünschen, sondern wieder zur nächsten Erkundungstour aufbrechen.

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Entstanden ist der Film nach der Erzählung “Iwan” (1957) des russischen Schriftstellers Wladimir Bogomolow (1926-2003). Dieser schrieb die Geschichte Iwans mit realen historischen und persönlichen Hintergründen und schilderte diese dabei ohne Pathos oder Sentimentalität. Das Projekt der Verfilmung dieses Stoffes war unter der Produktionsfirma Mosfilm bereits längere Zeit in Arbeit. Der russische Regisseur Eduard Abalow setzte das Projekt aber in den Sand und so wurde es an Tarkowski weitergereicht. Dieser schaffte es schnell und günstig den Film fertigzustellen. Der offizielle Bericht spricht davon, dass der Regisseur immer wusste, wie er etwas gedreht haben wollte und alle Produktionsfragen stets optimal lösen konnte. Er selbst berichtet davon, dass jede Innovation von den Verantwortlichen bemängelt wurde. Von dem vorhergehenden Material ist nichts mehr vorhanden, da Tarkowski das ganze Projekt neu und auf eigene Weise anging. Dadurch kam es auch zu Auseinandersetzungen mit dem Autor Bogomolow. Tarkowski benutzt die Vorlage als reines Gerüst und interessierte sich wenig für genaue Kriegsschilderungen. Dies war in den nachfolgenden Streits immer der wunde Punkt für Bogolomow. Auf beiden Seiten wurden so Zugeständnisse gemacht. Doch eines der wichtigsten Elemente – die Träume – durfte der Regisseur hinzufügen. Die Autorin Maja Josifowna Turowskaja erkennt in dieser Drehbuchentwicklung die Selbstbehauptung eines Autorenfilmers, der nicht nur Literaturverfilmungen nach starrem Muster schafft, sondern seine eigenen Ideen liefert.

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Die sehr positive Rezeption in Moskau nach der Filmpremiere zeigt, dass Tarkowskis Film missverstanden werden konnte. So hielten es seine Landsmänner durch die romantisierenden Bilder und die freundlichen Soldaten für einen patriotischen Film. Dies wurde ihm vor allem im Westen auch als großes Manko angerechnet. Er selbst war mit diesen Szenen sehr unzufrieden und nicht vollends davon überzeugt, dass er seine Ideen umsetzen konnte. Zufrieden dagegen waren er und die westlichen Kritiker mit den Traumsequenzen. Diese waren dazu angelegt zu zeigen, was Iwan denaturiert hat. Die Mixtur aus Träumen und Erinnerungen liefert Ideen von einer kriegszerstörten Kindheit. Aus der sonst konventionell erzählten (Kriegs-)Geschichte stechen die Traumpassagen markant hervor. Tarkowski kann sich an diesen Stellen von den üblichen Raum-Zeit-Modellen lösen und schafft eine Gegenwelt, wie es manche Autoren sehen, zu der Kriegsrealität. Diese Traumbilder sind von Tarkowski zum Teil chiffriert und surrealistisch gestaltet und erinnern so an Luis Bunuel (vor allem an “Der andalusische Hund” (1929)). In diesen Sequenzen herrscht die Logik der poetischen Verknüpfung vor, welche Tarkowski so am Herzen lag. Die Bilder transportieren Gefühle ohne klare Erzählung. Auch tauchen in diesem Film (vor allem in jenen Träumen) die typischen Elemente aus Tarkowksis Gestaltungspalette auf. So spielen Pferde und Wasser eine wichtige Rolle. Auch herrscht hier schon die typische Melancholie, welche die Protagonisten seiner Werke bis zum letzten Film umgeben wird. Damit erreichte Tarkowski sein Ziel. Nach eigenen Aussagen wollte er “Die Geschichte eines Charakters, der vom Krieg geboren und von ihm verschlungen wird” (siehe Hans Stempel) erzählen. Das tragische Erwachsenwerden steht im Vordergrund. Aus diesem Grund bestand er auch auf den Titel “Iwans Kindheit”, um den Aspekt der verlorenen Kindheit zu betonen. So muss der Film trotz seiner schönen Bilder als Antikriegsfilm betrachtet werden. Die harmonischen, stilisierten Filmaufnahmen fallen dem Betrachter unweigerlich auf. Dieser Art der Inszenierung bleibt er sich bis zum Ende treu und erschafft damit meist mehrere Bedeutungsebenen. Diese Bilder sind unablässig für Tarkowskis poetische Kinematographie. Wie in der Poesie versucht er mit wenigen Worten eine große Emotionalität zu schaffen, so dass die Landschaften meist Ablichtungen der Seele der Protagonisten darstellen.

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Der Film “Iwans Kindheit” ist eine konventionell erzählte Geschichte, die aber durch ihre Traumbilder eine Neuheit erfährt. Diese sind ein Gegenentwurf zum dargestellten Kriegsalltag und symbolisieren das, was Iwan verloren hat oder nie bekommen wird. Diese Art der Gestaltung macht hier bereits den Charme der Werke Tarkowskis aus und zeigt die Richtung, in die sich der Künstler entwickeln wird, um seinen Traum vom poetischen Kino zu erfüllen.

geschrieben von Doreen Matthei

Quellen:

  • Bogomolow, Wladimir – Iwans Kindheit. Zosia. Zwei Erzählungen, Berlin, 1967.
  • Gregor, Ulrich – Andrej Tarkowskij, in: Geschichte des Films ab 1960, Gütersloh, München, 1978, entnommen aus: Arsenal – Kino der Freude der Deutschen Kinemathek: Materialien zu den Filmen von Andrej Tarkowskij, Berlin, 1982.
  • Jacobsen, Wolfgang; Kreimeier, Klaus; Schlegel, Hans-Joachim; Schmid, Eva M J.; Sokurow, Alexander – Andrej Tarkowskij, München, Wien, 1987.
  • Jünger, Hans-Dieter – Kunst der Zeit, Andrej Tarkowskijs Konzept des Films, Ostfildern, 1995.
  • Stempel, Hans – „Iwans Kindheit“, Zeitungsartikel in Filmkritik, Frankfurt, Nov. 1963, entnommen aus: Arsenal – Kino der Freude der Deutschen Kinemathek: Materialien zu den Filmen von Andrej Tarkowskij, Berlin, 1982.
  • Tarkowskij, Andrej – Die versiegelte Zeit. Gedanken zur Kunst, zur Ästhetik und Poetik des Films, München, 1984.
  • Turkowskaja, Maja Josifowna, Allardt-Nostitz, Felicitas – Andrej Tarkowskij, Film als Poesie – Poesie als Film, Bonn, 1981.

Das Œuvre von Tarkowski als Spezialreihe auf Testkammer:

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Spezial 1: Andrej Tarkowski Einleitung
Spezial 2: Iwans Kindheit
Spezial 3: Andrej Rubljow
Spezial 4: Solaris
Spezial 5: Der Spiegel
Spezial 6: Stalker
Spezial 7: Nostalghia
Spezial 8: Opfer

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