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Andrej Tarkowski – Spezial 3: Nachdem der russische Regisseur Andrej Tarkowski mit seinem Debütfilm “Iwans Kindheit” (1962) sehr viel Anerkennung im eigenen Land sowie im Ausland erhielt, hatte er freie Hand bei der Verwirklichung seines zweiten Films. Der Spielfilm “Andrej Rubljow” (OT: “Andrey Rublev”, 1966, RU) ist oberflächlich betrachtet ein Historienfilm über den russischen Ikonenmaler Andrej Rubljow, welcher die russische Kunst vom Mittelalter hin zur Renaissance geleitete.
Von der historischen Person Rubljow ist nur wenig gesichert bekannt. Er lebte circa zwischen 1360 und 1430 in Russland. Er war ein malender Wandermönch und starb schlussendlich im russischen Andronow-Kloster. Vor allem bei den Werkzuschreibungen stehen die Kunsthistoriker oft vor Rätseln, da er häufig mit anderen Malerkollegen wie Theophan dem Griechen (1330-1410) zusammengearbeitet hat. Sein berühmtestes und ihm auch hundertprozentig zugeschriebenen Werk ist das Dreifaltigkeits-Fresko in der Uspenskij-Kathedrale. Dieses zeigt wunderbar die neuen Ausdruckselemente, die Rubljow in die russische Kunst eingeführt hat. Seine Ikonen- und Wandmalereien besitzen Gefühl, subtile Farbnuancen und lyrische Akzente. Dieser “neue Subjektivismus des Gefühlsausdruck” leitete einen “Humanisierungsprozess in der Kunst” (siehe Kreimeier) ein und führt vom Spätbyzantinismus in die osteuropäische Renaissance.
Das Leben Andrej Rubljows erzählt der russische Regisseur nicht als eine zusammenhängende Geschichte, sondern in einzelnen Kapiteln. Die zwei Teile, in die der Film aufgeteilt wurde, behandeln in acht Kapiteln plus einem Prolog Gegebenheiten aus 25 Jahren von Rubljows Leben. Der Film zeigt Szenen der Wanderschaft der Mönche Andrej (Anatoliy Solonitsyn), seinem Lehrer Daniil (Nikolay Grinko) und seinem Konkurrenten Kyrill (Ivan Lapikov). Dabei begegnen sie nicht nur einem Gaukler, sondern auch dem Maler Theophan (Nikolai Sergejew), der Andrej als seinen Gehilfen anwirbt. Weitere Kapitel beschäftigen sich mit der Entstehung des Jüngsten Gerichts und dem Tatarenangriff, der durch den Bruderzwist der beiden Herrscher ausgelöst wurde. Ein traumatisches Ereignis bringt Andrej Rubljow dazu ein Schweigegelübde abzulegen, welchem er 15 Jahre lang treu ist, bis er dem Glockengießer Boriska (Nikolay Burlyaev) begegnet. Dieser verleiht ihm neuen Mut und neuen Glauben an die göttliche Wirkung von Kunst.
Bereits im Jahr 1961, also vor “Iwans Kindheit” verfasste er zusammen mit seinem Studienkollegen Andrej Michaelkow-Kontschalowskij das Drehbuch. Abgedreht wurde der Film dann in den Jahren 1964 bis 1965. Im darauffolgenden Jahr fand die erste Aufführung in einem kleinen Kreis Moskauer Cineasten statt. Daraufhin schickten die Sowjets den Film 1967 zu den Filmfestspielen in Cannes. Bis dahin schien es gut für Tarkowski zu laufen, doch recht bald zogen diejenigen, welche den Film eingereicht hatten, ihn wieder aus dem Wettbewerb zurück. Den Zensoren missfiel die deutliche Allegorie auf die Gegenwart und Tarkowski lehnte es ab den Schnittauflagen Folge zu leisten. So wurde nicht nur “Andrej Rubljow” auf den Filmfestspielen in Cannes und Venedig nicht gezeigt, sondern auch alle weiteren sowjetischen Filme wurden von der Festivalleitung aus dem Programm genommen. Es verging eine längere Zeit bis die Affäre Rubljow überstanden war und der Film schlussendlich 1973 im deutschen Fernsehen erstmals zu sehen war. Bis dahin wurde der Film zu einer richtigen Legende, sodass das westliche Publikum schon die Aufführung des neuen Meisterwerkes herbeisehnte. Aber der Film löste nicht nur positive Reaktionen aus. Das zeitgenössische Publikum empfand die Form als zu unzugänglich, den Film allgemein als zu lang und es waren zu viele Nacktszenen und Grausamkeiten zu sehen. Auch die Geschichtsauffassung war für viele Landsmänner schwierig. Der Film wäre zu wenig optimistisch und hätte mehr den Widerstand zeigen sollen. Doch Tarkowski bestand auf seiner künstlerischen Autonomie und ließ nur wenige Veränderungen im Gesamten zu.
Auf formaler Ebene ist am auffälligsten die Struktur des Films. Mit vorangestelltem Prolog, der offenkundig nichts mit dem Maler selbst zu tun hat, wird der Lebensweg Rubljows durch acht Kapitel geschildert. Diese besitzen meist keinen richtigen Anfang oder kein richtiges Ende. In manchen Kapiteln ist der Künstler-Mönch selbst nicht der Agierende, sondern ein Beobachter. Während die erzählten Begebenheiten oft auf Überliefertem beruhen, versucht Tarkowski weitere Bedeutungsebenen einzubauen. So vermittelt seine klare in scharz-weiß gehaltene Bildsprache nicht nur Realismus, sondern besitzt viele Symbole und wiederkehrende Motive. Die unwirtlichen Landschaften sind Abbildungen der Seele und wenden sich damit zurück an “Iwans Kindheit” und greifen auf “Stalker” (1979) vor.
Die historische Figur Andrej Rubljow wird hier als Beobachter der Zeit eingesetzt. Über ihn selbst gab es zu wenig Informationen, sodass Tarkowski hätte Mutmaßungen anstellen müssen, um Rubljows Wesen näher zu umschreiben. Daher benutzt er ihn als Spiegel der Zeit und als Reagierenden auf politische und menschliche Erfahrungen. So sieht der Zuschauer die damalige Ereignisse durch Rubljows Augen. Dabei scheint der Blick oft nüchtern und er wird zum reinen Chronisten. Diese Umwandlung der Vorlage (hier eine historische Figur) ist dem Zuschauer durch die Literaturverfilmung “Iwans Kindheit” vertraut. Dem Regisseur ging es wieder einmal nicht um eine genaue Schilderung, sondern darum, die Figur für die Darstellung einer ganzen Epoche zu benutzen. Diese fällt bei Tarkowski sehr düster aus. Er stellt das Mittelalter mit all seinen Konflikten und unmenschlichen Taten ohne Schönfärberei dar und besteht auf einer realistischen Wiedergabe. Dabei verzichtet er auf eine übertriebene Historisierung und auch Details stehen nicht im Vordergrund. Wieder einmal will er eine Zeit möglichst als dichte Struktur darstellen, die der Zuschauer mehr erfühlen als visuell wahrnehmen soll.
Das Hauptthema in Tarkowskis zweitem Spielfilm ist der Künstler in seiner Zeit und welche Wirkung und Aufgaben dieser in der Gesellschaft hat. Der bildende Künstler scheint sich dabei stets in einem Netz von Abhängigkeiten zu befinden, die ihn daran hindern, sich frei zu entfalten. Den Existenzzweck jener sieht Tarkowski darin, uneigennützige Werke zu schaffen. So ist der Künstler stets auch ein rastloser Suchender, der die Menschen in seiner Umgebung beobachtet und eine Kraft im Volk sucht, welche durch die Kunst entstehen kann. Der Glockengießer Boriska (Nikolai Burljajew) steht als Beispiel des kraftvollen Künstlers, der alle Hürden überwindet und einen Dennoch-Optimismus verbreitet. Der Vergleich zu Tarkowskis eigenem künstlerischen Schaffen drängt sich förmlich auf. Auch er hatte mit schwierigen Umständen in der Sowjetunion für die Entstehung und Nicht-Veränderung seine Werke zu kämpfen. Vielleicht sah er sich genau wie Andrej Rubljow an der Schwelle einer neuen Zeit und Kunstform. Deshalb befindet sich Rubljow oft auch im Zwiegespräch mit anderen Künstlern. Besonders auffällig ist das Dreigestirn der anfänglichen Mönchsgruppe. So erscheint Daniil, Andrejs Lehrer, als konservativer Traditionalist, der die Kunst als Repräsentation für Gott versteht (wie auch Theophanes). Kyrill, der dritte Begleiter im Bunde, möchte sich vor allem durch geschaffene Werke profilieren. Mit dieser Figur kritisiert Tarkowski indirekt alle talentlosen Kollegen und Künstler, die vor allem auf Ruhm aus sind. Die Figur des Rubljow weiß dagegen lange nicht, wohin sie mit ihrer Kunst will, bis sie erkennt, dass sie das Menschliche betonen und abbilden möchte. Natürlich bleibt das Sakrale dabei stets im Blick, aber Rubljow versucht dem Menschen Gott näher zu führen. Sieht sich Tarkowski selbst so? Sollen seine Filme, die immer wieder religiöse Szenen enthalten, dabei helfen Gott näherzukommen oder versucht er auch hier bei “Andrej Rubljow” das Wesen der Menschheit einzufangen? Vermutlich lag ihm beides am Herzen. Natürlich nebst dem Wunsch einen poetischen Film zu schaffen, was immer noch sein vorrangiges Ziel war und dem er mit der Auflösung der Erzählstruktur, dem Prolog und den Abschweifungen im Film ein großes Stück näher gekommen ist.
Fazit: Der Historienfilm “Andrej Rubljow”, bei dem der russische Regisseur Andrej Tarkowski schon viel mehr Freiheiten besaß als bei seinem Erstling “Iwans Kindheit” bricht mit der konventionellen Erzählstruktur und berichtet vom Leben des russischen Ikonenmalers in einzelnen Episoden. Dabei legte er viel Wert darauf die mittelalterliche Zeit ohne Schönfärberei darzustellen. Die Epoche und Rubljow selbst dienen vor allem dazu, auszuloten, welche Rolle der Künstler in seiner Zeit spielt und wonach er streben sollte. So ist der Film ein Manifest für den unabhängigen Künstler, der sich mit einem Dennoch-Optimismus den Menschen zuwenden soll und seiner Zeit trotzen.
geschrieben von Doreen Matthei
Quellen:
- Capdenac, Michel – Andrej Rubljow in Les Lettres Francaises, Paris, 28.05.1969, entnommen aus: Arsenal – Kino der Freude der Deutschen Kinemathek: Materialien zu den Filmen von Andrej Tarkowskij, Berlin, 1982.
- Gregor, Ulrich – Andrej Tarkowskij, in: Geschichte des Films ab 1960, Gütersloh, München, 1978, entnommen aus: Arsenal – Kino der Freude der Deutschen Kinemathek: Materialien zu den Filmen von Andrej Tarkowskij, Berlin, 1982.
- Jünger, Hans-Dieter – Kunst der Zeit, Andrej Tarkowskijs Konzept des Films, Ostfildern, 1995.
- Kreimeier, Klaus – Kommentierte Filmographie, in: Jacobsen, Wolfgang; Kreimeier, Klaus; Schlegel, Hans-Joachim; Schmid, Eva M J.; Sokurow, Alexander – Andrej Tarkowskij, München, Wien, 1987.
- Pluta, Ekkehard – Andrej Rubljow, in: Medium, 02.1974, entnommen aus: Arsenal – Kino der Freude der Deutschen Kinemathek: Materialien zu den Filmen von Andrej Tarkowskij, Berlin, 1982.
- ·Tarkowskij, Andrej – Die versiegelte Zeit. Gedanken zur Kunst, zur Ästhetik und Poetik des Films, München, 1984.
- Turkowskaja, Maja Josifowna, Allardt-Nostitz, Felicitas – Andrej Tarkowskij, Film als Poesie – Poesie als Film, Bonn, 1981.
Das Œuvre von Tarkowski als Spezialreihe auf Testkammer:


Standbild aus dem Film “Andrej Rubljow”
Spezial 1: Andrej Tarkowski Einleitung
Spezial 2: Iwans Kindheit
Spezial 3: Andrej Rubljow
Spezial 4: Solaris
Spezial 5: Der Spiegel
Spezial 6: Stalker
Spezial 7: Nostalghia
Spezial 8: Opfer
8 Gedanken zu ““Andrej Rubljow” (1966)”