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Manche Autoren wie Jünger glauben, dass in diesem Film keine wiedergebbare Handlung existiert. Dabei sind deutlich zwei Erzählhandlungen auszumachen. Der erste Handlungsstrang ist die Geschichte Alexejs (Stimme von Innokentiy Smoktunovskiy – nicht zu sehen im Film), seiner Frau Natalia (Margarita Terekhova) und den Problemen ihrer Ehe. Der zweite Erzählstrang berichtet von Alexejs Kindheit und vor allem von seiner Mutter Nadezha (ebenfalls gespielt von Margarita Terekhova). Die Erinnerungen aus den 30er Jahren zeigen das Leben der Mutter mit all ihren Problemen und Erlebnissen.
Die Geschichte wird dabei nicht in einer Jetztzeit-Chronologie erzählt, sondern springt in den einzelnen Szenen munter hin und her. Der Betrachter muss sich selbst erschließen, in welcher Zeit die Geschichte gerade angesiedelt ist. Dabei stiften die Doppelbesetzungen der Darsteller vermutlich besonders Verwirrung. Gerade in den zeitgenössischen Quellen finden sich Aussagen darüber, dass man den Film viele Male sehen muss, um ihn gänzlich zu begreifen. Doch dies spiegelt nicht das Empfinden von heutigen Betrachtern wieder, die bereits ein breites Spektrum an Sehgewohnheiten gesammelt haben. Vor allem jene, die sich mit dem Feld der Experimentalfilme schon genauer beschäftigt haben.
Tarkowski nennt sein Filmkonstrukt selber eine Montage des “Chaos der Umstände” (Kreimeier). Diese außergewöhnliche Struktur setzt sich mit Dokumenten, Träumen, Ahnungen und Erinnerungen auseinander. Die Geschichte besitzt so nur eine assoziative Logik (Schlegel). Der Regisseur geht damit weg von der klassischen Erzähllogik und hin zu seinem poetischen Kino. Wenn man die Struktur genauer untersucht, erkennt man, laut Kreimeier, 16 verschiedene Montagesequenzen auf vier Erzählebenen. Dabei unterscheidet er die epische Gegenwart und die epischen Rückblenden, sowie die dokumentarischem Rückblicke und die Traumszenen voneinander. Kreimeier erkennt auch ähnliche Farbdramaturgien in den verschiedenen Ebenen. Doch so einfach lässt sich das Ganze nicht strukturieren, da es gerade bildsprachlich diverse Überlappungen gibt. Auch in diesen Bildern finden wir natürlich die typischen Elemente aus dem Universum Tarkowskis. Auf der Tonebene kann der Zuschauer viele bekannte Geräusche vor allem der Einsatz von Wassergeräuschen und Hundegebell wiedererkennen. Auf der sprachlichen Ebene zitiert er oft aus anderen Werken vor allem aus den Gedichten seines Vaters Arsenij Tarkowski (1907-1989). Trotz der ungewohnten Struktur fügt sich alles zu einem großen Ganzen zusammen. Die Geschichte bleibt zwar nicht fragenzeichenlos, lässt aber immer einen roten Faden erkennen und gibt genügend Hinweise auf die Bedeutung. Trotz des Fehlens einer Chronologie ist der recht kurze Film mit seinen 108 Minuten Länge einprägsam, zwar außergewöhnlich, aber nicht unverständlich.
Interessant ist, dass dieser schwierige und sehr persönliche Film es überhaupt bis zur Realisierung geschafft hat. Die ersten Ideenskizzen dafür lieferte Tarkowski bereits 1968. Zu der Zeit sollte der Film noch durch Interviews mit seiner Mutter, die er heimlich in Anwesenheit eines Psychologen filmen wollte, durchsetzt sein. Diese angebliche Hommage an seine Mutter besaß den Arbeitstitel “Die Beichte”. Das Projekt konnte aber nicht realisiert werden und so kam es nur zur fiktionalen Ausgestaltung, dessen Dreharbeiten im Jahr 1974 stattfanden. Schon während dieser kam es zu lauten Protesten gegen den Film. Besonders auffällig darunter war der Kameramann Wadim Jussow, der bis dato bei allen Tarkowski-Filmen mitgearbeitet hatte. Dieser empfand den Film aus moralischen Gründen als zuwider und zu unverhohlen autobiographisch. Nach seiner Fertigstellung erhielt der Film keine offizielle Wertschätzung in der Sowjetunion. Er wurde sogar von einem Gremium (Goskino-Kollegium) wegen seiner fehlenden Sinnfälligkeit, dem Subjektivismus und dem Mystizismus verurteilt. Auch als der Film 1977 schlussendlich ins Ausland kam, stieß er auf “ratlose Ergriffenheit” (Kreimeier). Zu dieser Zeit gingen viele Briefe bei Tarkowski ein, was ihm die Bestätigung gab, dass seine Filme ein Publikum fanden, obwohl viele ihre Ratlosigkeit aussprachen. Um das Ganze zu erklären, beharrte er darauf, dass der Film eine Kunstform sei und keine Verständlichkeit besitzen müsse. Auch gab er zum Besten, dass in dem Film keine versteckten Symbole sind, sondern die Zuschauer nur das poetische Kino nicht gewöhnt sind. Trotzdem lässt der Film – beabsichtigt oder nicht – viele Interpretationen zu.
Auch in diesem Film, wie auch schon bei “Solaris”, sind das Erinnern und das Gewissen ein Thema des Films. Hier macht es Tarkowski vor allem mit Spiegelungen und Wiederholungen greifbar. Er betont die Wiederkehr des Immergleichen (Kreimeier) und zeigt die Gleichzeitigkeit von Vergangenheit und Zukunft (durch die Doppelbesetzung der Schauspielerin Margarita Terechowa). Auch beschäftigt er sich mit sich selbst und dem russischen Volk im gleichen Maße. Für ihn gibt es scheinbar immer zwei Seiten, die dasselbe repräsentieren. Laut Kreimeier ist das der reine Ausdruck seiner geistigen Weltanschauung. Auch seine religiösen Ansichten kann er in diesem Film nicht verbergen und so erkennt man die christlichen Symbole an der einen oder anderen Stelle.
Fazit: Der Spielfilm “Der Spiegel” sticht aus dem Œuvre von Andrej Tarkowski heraus. Wird er von manchen Autoren (Jünger) als Übergangswerk angesehen, kann man ihn aber auch als den reinsten Ausdruck seines poetischen Kinos wahrnehmen. Losgelöst von einer klassischen Erzählstruktur berichtet er von seinen autobiographischen Erlebnissen und gleichzeitig von der Geschichte des russischen Volkes. Durch Spiegelungen und Zitate versucht er der menschlichen Natur habhaft zu werden und seine persönliche Krise zu meistern. Erstaunlich ist, dass er nach diesem Film weiterhin ungestört drehen durfte und zu einem leichter zugänglichen Erzählstil zurückkehrte. Da er sein filmisches Ziel mit diesem Werk bereits erreicht hatte, auch wenn er damit an die Grenzen des Geschmacks seiner Zeitgenossen gestoßen ist.
geschrieben von Doreen Matthei
Quellen:
- Clavel, Maurice – Der Spiegel, entnommen aus: Arsenal – Kino der Freude der Deutschen Kinemathek: Materialien zu den Filmen von Andrej Tarkowskij, Berlin, 1982.
- Gregor, Ulrich – Andrej Tarkowskij, in: Geschichte des Films ab 1960, Gütersloh, München, 1978, entnommen aus: Arsenal – Kino der Freude der Deutschen Kinemathek: Materialien zu den Filmen von Andrej Tarkowskij, Berlin, 1982.
- Jünger, Hans-Dieter – Kunst der Zeit, Andrej Tarkowskijs Konzept des Films, Ostfildern, 1995.
- Kreimeier, Klaus – Kommentierte Filmographie, in: Jacobsen, Wolfgang; Kreimeier, Klaus; Schlegel, Hans-Joachim; Schmid, Eva M J.; Sokurow, Alexander – Andrej Tarkowskij, München, Wien, 1987.
- Lachize. Samuel – Was ist „die russische Seele“?, in: Humanité Dimanche, Paris, 1978, entnommen aus: Arsenal – Kino der Freude der Deutschen Kinemathek: Materialien zu den Filmen von Andrej Tarkowskij, Berlin, 1982.
- Tarkowskij, Andrej – Der Spiegel. Die Novelle und das Arbeitstagebuch zum Film, Frankfurt am Main, Berlin, 1993.
- Tarkowskij, Andrej – Die versiegelte Zeit. Gedanken zur Kunst, zur Ästhetik und Poetik des Films, München, 1984.
- Turkowskaja, Maja Josifowna, Allardt-Nostitz, Felicitas – Andrej Tarkowskij, Film als Poesie – Poesie als Film, Bonn, 1981.
Das Œuvre von Tarkowski als Spezialreihe auf Testkammer:
Spezial 1: Andrej Tarkowski Einleitung
Spezial 2: Iwans Kindheit
Spezial 3: Andrej Rubljow
Spezial 4: Solaris
Spezial 5: Der Spiegel
Spezial 6: Stalker
Spezial 7: Nostalghia
Spezial 8: Opfer
8 Gedanken zu ““Der Spiegel” (1975)”