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Andrej Tarkowski – Spezial 6: Der Spielfilm “Stalker” gehört wohl zu den bekanntesten Werken des russischen Regisseurs Andrej Tarkowski. Sein fünfter Film kehrt zu einer einfacheren Erzählweise zurück und ist wieder eine Science-Fiction-Film nach einer Romanvorlage. Trotz der stringenten Erzählstruktur ist der Film ein Sinnbild für das Schaffen des Regisseurs, der mit wenig Sprache alles auszudrücken vermag, was dieser vermitteln will.
Durch einen Vorfall entstand in Russland eine mysteriöse Zone, die vom Militär abgeriegelt wurde. Es ist niemandem erlaubt, sie zu betreten, da sich dort seltsame Vorfälle ereignen und viele aus ihr nicht zurückkehren. Doch der Stalker (Aleksandr Kaydanovskiy) führt immer wieder Menschen sicher in die Zone rein und wieder heraus, wobei er nie weiß, ob es sein letzter Besuch sein wird. Diesmal wird er von einem Wissenschaftler (Nikolay Grinko) und einem Schriftsteller (Anatoliy Solonitsyn) angeheuert. Beide erhoffen sich von dem Raum in der Mitte der Zone, der möglicherweise Wünsche erfüllen kann, die Lösung ihrer Probleme.
Nach dem Roman “Picknick am Wegesrand” der Brüder Arkadij und Boris Strugatzkij, welcher erstmals 1972 in der Leningrader Zeitschrift “Aurora” veröffentlicht wurde, schuf Tarkowski sein 163 Minuten langes Werk. Dabei übernahm er die Grundlagen und die Figurenkonstellation des Buches. Die Zone ist auch im Film ein nicht rationaler Ort und Projektionsraum von Sehnsüchten. Auch die Personen besitzen ähnliche familiäre Hintergründe und Ziele. Doch weicht er in manchen Punkten auch wesentlich von der Buchvorlage ab. So interessieren ihn die ganzen absonderlichen Ausformungen der Zone kaum und er reduziert sie auf ein gestalterisches Minium. Dadurch wird beispielsweise eine goldene Wunschkugel zu einem einfachen Zimmer. Auch klare, historische Hintergründe werden nicht näher beleuchtet, sondern ihm geht es dabei vor allem um Daseinsentwürfe (Jünger). In diesem Sinne sind der Wissenschaftler und der Schriftsteller Geschöpfe von Tarkowski (Kreimeier), die für ihn einen bestimmten Standpunkt einnehmen.
Der letzte in der Sowjetunion gedrehte Film erfuhr keine bürokratischen Hindernisse, besaß aber trotzdem eine lange Entstehungszeit, da Tarkowski nicht nur für die Regie und als Co-Autor verantwortlich war, sondern auch die Ausführung und Gestaltung der Bauten für die Zone als Aufgabe mit übernahm (Turkowskaja). 1979 war der Film fertiggestellt und wurde dann 1980 in Cannes aufgeführt. Die Reaktionen waren wie immer zwiespältig. Für viele Kritiker war der Film zu pessimistisch und endzeitlich. Tarkowski hielt gegen diese Aussage direkt dagegen, da er sein Werk als eine “Bürgschaft für die Zukunft” empfand. Seiner Meinung nach zeigt der Film, dass aus Schwäche Stärke erwachsen kann (Kreimeier). Im sowjetischen Kulturbertrieb löste der Film Unruhe aus, da in ihm ein Plädoyer für Werte gesehen wurde, die offiziell als überholt galten (‘liv’). Viele dieser Uneinigkeiten führten vermutlich zu seinem baldigen Exil.
Es stellt sich die Frage, warum Andrej Tarkowski sich immer wieder dem Science-Fiction-Genre zuwendete. Die Autorin Turkowskaja sieht den Grund dafür in der freien Gestaltung der Erzählung. Es ist hier unabhängig von Zeit, Raum und Motiv möglich eine eigene Welt zu schaffen. Aber auch bei “Stalker” dient die Romanvorlage nicht als klassischer Science-Fiction-Stoff, wie es zu der Zeit in den westlichen Ländern üblich war, sondern Tarkowski nutzt ihn für einen philosophischen Disput, in dem viele Werke wie “Die Göttliche Komödie” (1321) von Dante Alighieri anklingen (Andrews). So kürzte Tarkowski die phantastischen Elemente auf ein Minium und benutzt sie nur als Rahmenhandlung. Neben literarischen Parabeln finden sich auch geschichtliche und politische Elemente wieder. All dies ist in einer klaren, parabelhaften Struktur dargestellt. Die Handlung wird chronologisch und stringent erzählt. Die Autorin Turkowskaja sieht darin eine der größten Schwächen des Films. Doch kann diese Rückkehr zur klaren Struktur auch als gutes Mittel anerkannt werden, um sich auf das Eigentliche – die poetische Intention – konzentrieren zu können. Durch viele Leserbriefe wusste Tarkowski von der Verwirrtheit, die der vorhergehende Film “Der Spiegel” (1975) ausgelöst hatte, so könnte man annehmen, dass er deshalb zur einfacheren Form zurückkehrte, um die Botschaften für alle verständlich zu vermitteln.
Auch in der Bildsprache steht die Reduzierung im Vordergrund. Die phantastischen Elemente sind nur in realen Gegenständen zu finden. Die gezeigte Zone ist eine vom Menschen verlassene und von der Natur zurückeroberte Landschaft, die keine offensichtlichen unerklärlichen Phänomene zeigt. Es ist eine verwüstete, unzivilisierte Gegend, die wunderbar das Seelenleben der Protagonisten widerspiegelt. So bilden auch die Optik und der Dialog eine Einheit (‘liv’). Der Film besitzt nur wenige Dialoge, diese spiegeln sich in der (teils trügerischen) Ruhe der Natur wieder. Um diese Stille einzufangen, verwendeten Tarkowski und sein Kameramann Alexander Knjaschinski keine schnellen Schnitte, sondern vor allem lange und langsame Kamerafahrten sowie andere fließende Kamerabewegungen. Die eingefangenen Bilder sind dabei nicht farbintensiv, sondern leicht trüb und passen sich so auch der melancholischen Grundstimmung der Protagonisten an. Diese wird auch mit den vielen Großaufnahmen der meist unbewegten Gesichter zum Ausdruck gebracht. So ist die gesamte bildnerische Gestaltung mit all ihren ruhigen Kamerafahrten, Ruinenlandschaften und der unbelebten Natur Ausdruck für die menschliche, zerbrechliche Seele, welche, laut Tarkowski, der Heilung bedarf.
Im Mittelpunkt der Geschichte steht hier wieder eine Dreiergruppe wie auch schon bei “Andrej Rubljow” (1966) und “Solaris” (1972), welche in diesem Film Religion, Wissenschaft und Kunst verkörpern. Angeführt wird die Gruppe von dem Stalker. Gespielt wird er von dem unbekannten Darsteller Alexander Kajdanowskij. Dieser besitzt die passende, proletarische Physiognomie (Kreimeier), um den Charakter gleichzeitig Härte und Weichheit ausstrahlen zu lassen. Dieser Gegensatz ist notwendig, um die Figur des Stalkers zu erfassen. Er steht auf der untersten Stufe der Gesellschaft und riskiert bei Ausflügen in die Zone stets sein Leben. Doch er besitzt eine Gabe, die den anderen Figuren fehlt. Er kann die Zone als etwas Magisches wahrnehmen und hinter den Vorhang blicken. Er sieht eine andere Realität (Kreimeier) und besitzt so ein Naturverständnis im Sinne Tarkowskis. So steht er für den utopistischen Teil, der Hoffnung verströmt (Kreimeier). Trotz aller gefühlter Melancholie ist Hoffnung für Tarkowski eine treibende Kraft, die er in all seinen Filmen einbaut. Den Gegensatz dazu bilden die beiden Figuren des Wissenschaftlers und des Schriftstellers. Beide werden von Tarkowskis Lieblingsschauspielern verkörpert: Anatolij Solonizyn, bekannt aus “Andrej Rubljow” und “Solaris” als Schriftsteller und Nikolai Grinko, ebenfalls zu sehen in “Solaris” als Wissenschaftler. Die beiden Figuren bilden die gegensätzlichen Pole des Mystizismus und des Materialismus (Andrews). Zwar sind ihre Gründe für den Besuch der Zone sehr unterschiedlich – geht es dem einem um die eigene Muse und dem anderen um den fehlenden Glauben an das Gute im Menschen – sind beide Arme im Geiste (Turkowskaja). Ihnen mangelt es an Glauben und Willenskraft und sie stehen so im starken Kontrast zu ihrem Führer, dem Stalker. Am Ende scheinen aber trotzdem alle gescheitert zu sein, doch ein Wandel bahnt sich an und Besinnung ist zu erkennen (Hartmut Böhme zitiert bei Kreimeier).
Das Hauptthema des Werkes ist unverkennbar. Es geht um den Menschen, der zur Selbsterkenntnis gelangen soll und eine neue Naturverbundenheit erfahren muss. In der Zone hat sich die Natur alles zurückerobert und viele zivilisatorische Ungetümer wie Waffen, Stahlträger und Beton überwuchert. Nachdem die Gruppe in die Zone vorgedrungen ist, erkennt man eine andere Bildsprache, die mit ruhigen Kamerafahrten und mehr Farbe die Ursprünglichkeit der Natur betont. Der Stalker quittiert die Ankunft mit den Worten “Wir sind daheim”. In dieser Aussage steckt der Kern des ganzen Naturglaubens Tarkowskis und sie zeigt, woraus er, der Melancholiker, Hoffnung schöpft. Eng im Zusammenhang steht damit die Selbsterkenntnis des Menschen. Dieser soll zu seinen Wurzeln zurückkehren und sich von dem dem Fortschritt blind ergebenen Konsum abwenden (Jünger). Dafür ist der Gang durch die Zone notwendig. Sie ist ein Ort der Reinigung, ob nun auf religiöse oder spirituelle Weise. Der Film besitzt an einigen Stellen auf bildlicher wie auf sprachlicher Ebene auffällige Hinweise auf das Christentum und den damit einhergehenden Läuterungsgedanken. Die Zone beheimatet viele Interpretationsmöglichkeiten. So könnte sie auch als das Leben selbst angesehen werden, durch das der Mensch durch muss (Jünger), um am Ende zur Erkenntnis zu gelangen. Die Reise in die Zone ist aber auf jeden Fall immer eine Reise ins Innere, was Tarkowski unterstreicht, indem er der Zone äußerlich keine phantastischen Elemente zuordnet.
Der Film “Stalker” ist gefüllt mit Elementen, die das Werk zu einem typischen Tarkowski-Film machen, obwohl Autoren wie Turkowskaja davon sprechen, dass die Motive zurückgestutzt sind. Erst einmal ist die gesamte Zone ein Ausdruck von Tarkowskis Naturverständnis. So spielt auch Wasser wieder eine Rolle und der auftretende Hund übernimmt die Repräsentationsrolle der Pferde der früheren Filme, die für das Animalische in der Natur und im Herzen des Menschen stehen. Auch in der BIldsprache kehrt er zu seinen Anfängen zurück. Mit langen, ruhigen Einstellungen (hier zur höchsten Vollendung geführt) ergründet Tarkowski die Gesichter der suchenden Protagonisten. Die Suche, welche die Menschen nie zur Ruhe kommen lässt, ist ein zentrales Thema aller bisherigen Werke. So ist die Figur des Stalkers der Archetyp im Tarkowski-Universum, da er nicht nur ein Suchender, sondern auch ein Außenseiter und ein Leidener ist, der die Möglichkeit hat, dadurch zur Erkenntnis zu gelangen.
Fazit: Der fünfte Film – “Stalker” – des russischen Regisseurs Andrej Tarkowski scheint zusammen mit dem Film “Der Spiegel” die Quintessenz seines Schaffens zu sein und liefert so zwei recht unterschiedliche Beiträge zum poetischen Kino. Bei “Stalker” konzentriert er sich auf den langen Weg der Selbsterkenntnis und der für ihn unvermeidbaren Rückkehr zur Natur. Er beraubt der Romanvorlage bei seiner Verfilmung fast alles Phantastische und setzt den Fokus auf das Innenleben seiner Protagonisten, die er in langen Passagen oft ohne Sprache auslotet und den wenigen, gesprochenen Wörtern viel Gewicht hineinlegt. Im Gesamten ist “Stalker” nicht ohne Grund eines der bekanntesten Werke des russischen Regisseurs, da es doch die Weltsicht dessen und Stil des Erzählens wesentlich ablichtet und einen bleibenden Eindruck hinterlässt.
geschrieben von Doreen Matthei
Quellen:
- Jünger, Hans-Dieter – Kunst der Zeit, Andrej Tarkowskijs Konzept des Films, Ostfildern, 1995.
- Kreimeier, Klaus – Kommentierte Filmographie, in: Jacobsen, Wolfgang; Kreimeier, Klaus; Schlegel, Hans-Joachim; Schmid, Eva M J.; Sokurow, Alexander – Andrej Tarkowskij, München, Wien, 1987.
- Stalker – Informationsblatt Nr. 31 des Internationalen Forums des jungen Films, Berlin 1981, Mit Beiträgen von Nigel Andrews und ‚liv‘,entnommen aus: Arsenal – Kino der Freude der Deutschen Kinemathek: Materialien zu den Filmen von Andrej Tarkowskij, Berlin, 1982.
- Stalker – Zitate von Elvira Reitze, Norbert Jochum, Wolfram Schütte, Karena Niehoff, entnommen aus: Arsenal – Kino der Freude der Deutschen Kinemathek: Materialien zu den Filmen von Andrej Tarkowskij, Berlin, 1982.
- Tarkowskij, Andrej – Die versiegelte Zeit. Gedanken zur Kunst, zur Ästhetik und Poetik des Films, München, 1984.
- Turkowskaja, Maja Josifowna, Allardt-Nostitz, Felicitas – Andrej Tarkowskij, Film als Poesie – Poesie als Film, Bonn, 1981.
Das Œuvre von Tarkowski als Spezialreihe auf Testkammer:
Spezial 1: Andrej Tarkowski Einleitung
Spezial 2: Iwans Kindheit
Spezial 3: Andrej Rubljow
Spezial 4: Solaris
Spezial 5: Der Spiegel
Spezial 6: Stalker
Spezial 7: Nostalghia
Spezial 8: Opfer
8 Gedanken zu ““Stalker” (1979)”