Fünf Fragen an Jonas Riemer (2020)

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Interview: Im Gespräch mit dem deutschen Filmemacher Jonas Riemer, der mit seinem ersten Kurzfilm „Mascarpone“ (2018) eine erfolgreiche Festivalrunde absolvierte und u.a. auf dem 30. Filmfest Dresden 2018 auch den DEFA-Förderpreis gewann, der ist nun mit einem Animadok wieder zurück (ebenfalls in Dresden 2020). Er erzählt uns wie er den Stoff für seinen zweiten Kurzfilm „Der übers Meer kam“ fand, worauf er bei der Gestaltung sein Augenmerk legte und wie es bei ihm weitergehen wird. 

Nach Deinem wunderbaren Erstling „Mascarpone“ wendest Du Dich in Deinem zweiten Film einem sehr ernsten Thema auf dokumentarische Weise zu. Wie kam es zu dem Wechsel zum Dokumentarfilm und wie hast Du Deine Geschichte für den Film gefunden?

Die Geschichte kannte ich aus meinem Verwandtenkreis. Aus Erzählungen meiner Eltern wusste ich, dass mein Onkel Anfang der Achtziger mit einem Faltboot aus der DDR geflohen war und schließlich von dänischen Fischern gerettet wurde. Das allein ist natürlich schon eine außergewöhnlich Geschichte, doch mein Interesse wurde erst 2017 geweckt, als ich erfuhr, dass derselbe Mann mittlerweile für die AFD kandidiert. Das war für mich ein grotesker Widerspruch der tausend Fragen in mir ausgelöst hat. Unter anderem: Wie kann es sein, dass jemand, der aus der DDR geflohen ist und auf fremde Hilfe angewiesen war, um zu überleben, heute in der AfD politisch aktiv ist? Wie wurde aus diesem mutigen Menschen der die Mauer überwunden hat ein Mann, der sich nach Abschottung sehnt? Wovor fürchtet er sich?

Da mich diese Fragen nicht mehr losgelassen haben, habe ich mich dann dieser neuen Herausforderung gestellt, meine Komfortzone zu verlassen und ein Thema anzugehen, das viel Geduld und Sensibilität erfordert. 

Im Gegensatz zu „Mascarpone“, bei dem die Ästhetik und das filmische Austoben im Vordergrund stand, ging es mir hier vielmehr um den Inhalt: das intime Portrait einer facettenreichen Persönlichkeit und meine persönliche Auseinandersetzung mit Flucht und Rechtspopulismus. 

Hast Du das Interview selbst geführt? Wie offen war eure Unterhaltung? Ist noch mehr Audio-Material entstanden?

Das Interview habe ich selbst geführt und dabei versucht mich mit meiner eigenen Meinung zurückzuhalten und eher als neugieriger Zuhörer zu agieren. Dabei sind etwa 14 Stunden spannendes Material entstanden, das mir Einblick in seine Lebensgeschichte mit seinen Ängsten und Wünschen gewährt hat. Am Ende ist zwar nur ein kleiner Ausschnitt davon im Film gelandet, aber das Interview war für mich eine horizonterweiternde Erfahrung, die mir gezeigt hat, dass sich mir durchs bloße Zuhören, die einzigartige Vielschichtigkeit einer Person eröffnen kann. 

Die Herausforderung bei der Montage war vor allem die richtige Balance zu finden: Denn mir war wichtig ihn relativ objektiv zu portraitieren, seinen politischen Aussagen nicht zu viel Raum zu geben, ihn aber auch zu kritisieren und trotzdem als Mensch zu behandeln.

Die Wirkung des Films mit dem Wechsel von historischen zur politisch aktuellen Situation am Ende der Geschichte ist enorm. Lag Dir vor allem das Ungleichgewicht als Botschaft am Herzen?

Der Umschwung von der historischen Flucht zur aktuellen politischen Situation hat sich zum einen organisch aus dem Interview ergeben, zum anderen ist es auch naheliegend und wichtig. Auch wenn man eine DDR Flucht nicht eins zu eins mit heutigen Flüchtlingen vergleichen kann, so bleibt die elementare Frage doch die selbe: Nehmen wir Menschen in Not auf oder schotten wir uns lieber ab?

Die Widersprüchlichkeit dient als Fundament für die dramaturgische Struktur und ist für mich sowohl absurd als auch in sich schlüssig. Menschen sind sehr unlogische, komplexe Wesen und man braucht viel Zeit und Geduld, um eine einzelne Person ansatzweise zu verstehen. Ich denke, dass sich durch die relativ objektive Sicht und die Widersprüchlichkeit der zwei Seiten die Unlogik der rechten Ideologie zum Teil von selbst entlarvt. Meine Botschaft ist, die Absurdität und Brutalität von Abschottung in Frage zu stellen – sowohl die Abschottung eines Landes als auch die von Menschen untereinander. 

Visuell hast Du Dich hier für einen kompletten Animationsfilm entschieden – das bedingt sich bestimmt aus dem Thema heraus, oder? Was war Dir für die Umsetzung wichtig? 

Zum einen gab es es ja kein Video oder Fotomaterial von der Flucht und zum anderen eröffnen sich einem durch Animation sehr viele kreative Möglichkeiten für ungewöhnliche Erzählweisen – auch wenn man erst einmal bei Null anfangen muss. Die Animation reduziert die Geschichte hier auf das Wesentliche, abstrahiert und lässt dem Zuschauer genügend Raum für die eigene Fantasie bzw. eigene Meinung.

So entsteht außerdem ein spannender Kontrast zur Nähe und Authentizität des Erzählers. Auch die God´s Eye – Perspektive und die langen Einstellungen tragen dazu bei den Protagonisten verloren, klein und austauschbar wirken zu lassen – es ist ja schließlich keine Einzel-Geschichte. Gleichzeitig ist es eine relativ neutrale, observierende Perspektive, welche die Moral in Frage stellt.

Mir war auch sehr wichtig eine klaustrophobische Stimmung zu kreieren, um eine subtile Kritik in den Film zu flechten, ohne dem Zuschauer eine Meinung aufzudrücken. So ist zum Beispiel die dissonante, zwiegespaltene Musik am Anfang oder das Seitenverhältnis das immer schmaler wird ein abstrakter Kommentar.

Wie geht es nun bei Dir weiter? Wirst Du Dich weiterhin in verschiedenen Genren und Gestaltungen ausprobieren? Sind schon weitere Projekte geplant?

Ich entwickle gerade ein neues fiktionales Projekt und wage mich wieder an ein für mich neues Genre. Soviel kann ich schon verraten: es wird ein längeres Format und wieder eine Kombination aus Animation und Live Action. 

Die Fragen stellte Doreen Matthei

Lies auch die Rezension des Kurzfilms „Der übers Meer kam

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