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Jamal K. Malik (Ayush Mahesh Khedekar) hat es seit seinen Kindheitstagen schwer. Nach einem Aufstand verliert er seine Eltern und irrt mit seinem Bruder Salim (Madhur Mittal) durch die Gegend und gelangt in ein Waisenhaus, wo sie die junge Latika (Rubina Ali) kennenlernen. Doch über die Zeit verlieren sie sich immer wieder. Salim (Madhur Mittal) rutscht in düstere Geschäfte ab und Jamal (Dev Patel) versucht sich mit niederen Arbeiten durchzuschlagen. Als junger Mann sucht er weiterhin nach seiner Jugendliebe Latika (Freida Pinto), die er aus den Augen verloren hat. Aus diesem Grund meldet er sich bei „Who Wants to be a Millionaire“ an, denn dort ist die Chance groß, dass sie ihn im Fernsehen zu Gesicht bekommt.
Der Spielfilm basiert auf den Debütroman „Rupien! Rupien!“ (OT:„Q & A“, 2005) von Vikas Swarup (*1963). Der indische Schriftsteller wurde durch den Besuch einer Lernstation des Bildungsprojekts ‚Hole in the Wall‘, bei dem Kindern an 300 Kiosken in indischen Slums die Möglichkeit gewährt wird, ins Internet zu gehen, inspiriert. Er schuf eine Geschichte direkt aus den Slums und erzählt von einem Waisenkind, das auf seinen verschiedenen Stationen mit ganz unterschiedlichen Themen und Problemen konfrontiert wird u.a. dem Kastenwesen, verschiedenen Religionen, Homosexualität, Kriminalität, Prostitution und Kinderarbeit. Nicht chronologisch erzählt er all das aus der Hand des Lebens seines Protagonisten und der ‚Who Wants to be a Millionaire‘-Spielshow. Die Geschichte wurde vom Drehbuchautor Simon Beaufoy (*1967) adaptiert, wofür er den Oscar für das ‚Beste adaptierte Drehbuch‘ erhielt. Um sich besser in den Stoff hineinzufühlen, reiste er dreimal nach Indien und interviewte Straßenkinder. Trotzdem unterscheidet sich das Drehbuch in vielerlei Hinsicht von der Romanvorlage. So wurde der beste Freund zum großen Bruder und ein Straßenmädchen zur großen Liebe, um die er den ganzen Film kämpft. Auch wurden einige Themen stärker in den Vordergrund geholt und manche Themenkomplexe komplett ausgelassen. So ergibt Beaufoys Drehbuch zwar ein Gesamtbild von Indien, das aber nicht ansatzweise so differenziert ist wie der Roman. Ganz eklatant ist auch der Unterschied der Auswertung der Fragen. Der Roman wechselt von Kapitel zu Kapitel in den verschiedenen Lebensetappen, so dass sich erst nach und nach ein zusammenhängendes Bild ergibt, während der Film sich für eine klar chronologische Struktur im Rückblendencharakter entscheidet. Die narrative Erzählung sowie die Hervorhebung der Liebesgeschichte machen den Film deutlich leichter konsumierbarer und öffnet ihn so einem größerem Publikum. So fügt der Regisseur Danny Boyle mit Lust und Freunde Elemente aus Abenteuer-, Gangster- und Liebesgeschichte zusammen. Er orientiert sich dabei an den indischen, sogenannten Masala-Filmen, bei denen es auch immer einen Genre-Mix gibt. Im Gesamten kombiniert er hier die Bollywood-Ästhetik, u.a. eine starke Farbsättigung und eine sehr emotionale Herangehensweise mit dem westlich geprägten Erzählstil á la Hollywood. Diese Kombination lag dem Regisseur Boyle im Blut, so erzählt er auch in ähnlicher Weise in „Trainspotting“ (1996) von Drogensüchtigen.
Die britischen Produktionsfirmen Celador Films und Film4 boten Danny Boyle das Drehbuch an, aber er zeigte anfänglich wenig Interesse daran. Erst als er erfuhr, dass Simone Beaufoy, von dem u.a. auch das Drehbuch zu seinem Lieblingsfilm „Ganz oder garnicht“ (1997, Regie: Peter Cattaneo) stammt, den Roman adaptiert hat, wurde Boyle aufmerksam und beschloss das Angebot anzunehmen. Damit der Film mit einem angesetzten Budget von 15 Millionen Dollar realisiert werden konnte, wurden dann noch weitere Studios ins Boot geholt, so dass am Ende sowohl Warner, die nicht so recht an den Erfolg glaubten, als auch Fox Searchlight dabei waren. Das Ziel des Films war es, trotz all des Bombasts auf die verheerende Situation in den Slums aufmerksam zu machen. Aufgrund der sehr lebensechten Darstellung der Slums wollten mehrere Firmen, wie Mercedes-Benz oder die Getränke-Marke Thumbs-Up, nicht mit ihrem Logo im Film vorkommen. Stellvertretend für alle Slums der Welt, erzählt der Film vor allem von den Kindern, die u.a. in ärmlichen Bedingungen aufwachsen und oft in Situationen geraten, die illegal sind oder sie zu Handlungen zwingen, die unmenschlich sind. Ein Clou war es, dass der Kinder-Cast wirklich mit Laiendarsteller:innen aus den Slums besetzt wurde. Einen Aufschrei gab es nach dem Erfolg des Films, als sich herausstellte, dass viele der jungen Darsteller:innen u.a. die junge Rubina Ali weiterhin unter elenden Bedingungen lebten. Daraufhin richtete Danny Boyle einen Fund ein, der die Kinderdarsteller:innen aus den Slums bis zu ihrem 16. Lebensjahr unterstützt.
Im Herbst 2007 reiste das Filmteam dann nach Indien und suchte vor Ort für den Dreh Filmtechniker sowie die Schauspieler:innen. Ursprünglich wollte der Regisseur Danny Boyle auch 30% aller Dialoge nicht in Englisch, sondern in Hindi, einsprechen lassen. Dagegen wehrten sich aber die Produktionsfirmen, denen ein Anteil von circa zehn Prozent vorschwebte. Schlussendlich sind 20% aller Texte in Hindi eingesprochen wurden. Am 5. November 2007 starteten die Dreharbeiten an Live Locations vor Ort. Der Kameramann Anthony Dod Mantle (*1955), der u.a. auch bei „Der letzte König von Schottland“ (2006) sowie bei „Antichrist“ (2009) filmte, erhielt den Oscar für die ‚Beste Kamera‘. Er verbindet in „Slumdog Millionär“ rasante Kamerafahrten für die Actionszenen-artigen Sequenzen mit den betörenden Farben Bollywoods, so wurde u.a. darauf geachtet, dass die Hauptdarstellerin immer einen Gelbton trägt. „Slumdog Millionär“ war der erste digital aufgenommene Film, der einen Kamera-Oscar erhielt. Mantle ließ das schwere Equipment stehen und arbeitete mit einer kleinen Digitalkamera. Das war besonders gut geeignet für die engen Gassen der Slums in Mumbai. Im Allgemeinen schnitt der Film in den formalen Kategorien sehr gut ab, so gewann der Film auch den Oscar für den ‚Besten Ton‘ (Ian Tapp, Richard Pryke und Resul Pookutty) und für den ‚Besten Schnitt‘ (Christopher Dickens). Auch in den beiden Musikkategorien konnte der Film beide Trophäen gewinnen. Der Komponist A. R. Rahman (*1966) wurde zum einen für den Credits-Songs „Jai Ho“ mit den Oscar für den ‚Besten Filmsong‘ ausgezeichnet und gleichzeitig wurde der gesamte Score als ‚Beste Filmmusik‘ prämiert. Rahman, der somit der erste Asiate war, der im gleichen Jahr zwei Oscars gewinnen konnte, schuf die rhythmische Energie des Films. Er benötigte nur 20 Tage, um die Musik komplett zu komponieren. Der Abspannsong – „Jai Ho“ – wurde ursprünglich für den Film „Yuvvraaj“ (2008) komponiert, aber der Regisseur Subhash Ghai fand ihn unpassend und so konnte Rahman hin hier verwenden. Passend zum Song entwarf der Choreograph Longinus Fernandes eine Tanz-Choreographie, welche dem Abschluss des Films noch einmal etwas Märchenhaftes verleiht. Da er bei den Credits unglücklicherweise nicht genannt wurde, nutzt Boyle seines Dankesrede, um sich bei ihm zu entschuldigen.
Der britische Regisseur Danny Boyle (*1956), dem das Publikum Filme aus verschiedenen Genres wie „Trainspotting“ (1996), „The Beach“ (2000), „28 Days Later“ (2002), „Sunshine“ (2007) und „Yesterday“ (2019) verdankt, bekam hier seinen bisher einzigen Oscar für die ‚Beste Regie‘ verliehen. Boyle schaffte es in seinen Filmen mühelos, die verschiedenen Genres zu bedienen, aber auch zu kombinieren. So war er perfekt dafür geeignet, den Roman zu verfilmen. Denn hier konnte er sein Geschick für die Inszenierung realitätsnaher Stoffe nutzen, die er zwar überhöht, die dabei aber trotzdem nicht ihre Erdung verlieren. So schafft er es bei einem breiten Publikum anzukommen und gleichzeitig aber unaufdringlich auf Miseren und Missstände aufmerksam zu machen. Hinzu kam die gute Wahl des Casts. Ursprünglich wollte Boyle eine ausnahmslos indische Besetzung, wurde aber nicht fündig. Als er nach Großbritannien zurückkehrte, machte ihn seine Tochter auf einen Seriendarsteller aufmerksam. So bekam Dev Patel (*1990) die Rolle und bildet zusammen mit Freida Pinto, welche hier ebenfalls wie er ihr Debüt gibt, das Herz des Films. Patel startete seine Karriere in der Serie „Skins“ (2007-2013) und diese nach „Slumdog Millionär“ mit Filmen wie „Die Legende von Aang“ (2010), für den er die Goldene Himbeere erhielt, und „Lion – Der lange Weg nach Hause“ (2016), der ihm eine Oscarnominierung einbrachte, fort.
Die Premiere feierte der Film auf dem Telluride Film Festival am 30. August 2008. Er mauserte sich auf diversen Festivals zum Publikumsliebling und spielte am Startwochenende in nur zehn Kinos 360.000 US-Dollar ein. Daraufhin wurde die Anzahl der Spielstätten erhöht, so dass die weltweiten Kinoeinnahmen auf 380 Millionen Dollar stiegen. Der Film konnte neben den acht Oscars auch sieben BAFTAs (British Academy Film Award), vier Golden Globes und zwei Grammys gewinnen.
Fazit: Auf der 81. Oscarverleihung wurde der britische Spielfilm „Slumdog Millionär“, nach einem Roman von Vikas Swarup, mit acht Oscars ausgezeichnet. Der Regisseur Danny Boyle kombiniert darin verschiedene filmische Genres, arbeitete mit einer flinken Digitalkamera und schafft es ernste Stoffe mit einer starken Farbpalette und einer ansprechende Bildsprache zu erzählen, so dass ein breites Publikum angesprochen wurde, was gleichzeitig gut unterhalten wurde.
Bewertung: 6/10
Trailer zum Film „Slumdog Millionär“:
geschrieben von Doreen Matthei
Quellen:
- Wikipedia-Artikel über die Oscarverleihung 2009
- Wikipedia-Artikel über den Film „Slumdog Millionär“
- Wikipedia-Artikel über den Regisseur Danny Boyle
- IMDb-Trivia zum Film „Slumdog Millionär“
- Wikipedia-Artikel über den Hauptdarsteller Dev Patel
- RBB, ‚Slumdog Millionär‘, rbb-online.de, 2022
- Nadine Hinder, ‚Medienethischer Essay zu «Slumdog Millionaire» – Portfolio Nadine Hinder‘, nadinehinder.ch, 2018
- Schneider, Steven Jay: 1001 Filme die sie sehen sollten bevor das Leben vorbei ist, Edition Olms AG, Zürich, 2013.