„Der Stadtneurotiker“ (1977)

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Filmkritik: Ganze 24 Mal war der Regisseur, Drehbuchautor und Schauspieler Woody Allen im Laufe seines bisherigen Schaffens für diverse Oscars nominiert gewesen. Die ersten Trophäen erhielt er für seinen Spielfilm „Der Stadtneurotiker“ („Annie Hall“, USA, 1977), der 1977 einen Wendepunkt in seiner Karriere darstellte. Zum 50. Jubiläum der Oscarverleihung, welche zum 13. Mal von Bob Hope moderierte wurde, wurde der Film für die Big Five nominiert, konnte vier Oscars u.a. den für ‚Besten Film‘ gewinnen und setzte sich so in der Hauptkategorie gegen Filme wie „Krieg der Sterne“ (1977) von George Lucas durch. 

Alvy Singer (Woody Allen) lebt in New York, ist ein erfolgreicher Komiker und betrachtet die Welt immer mit etwas Sarkasmus. Als er Annie Hall (Diane Keaton) kennenlernt, scheint sie der perfekte neurotische Gegenpart zu sein. Gegenseitig beflügeln sie sich genauso, wie sie sich auch von Zeit zu Zeit runterziehen. So geht es in dieser turbulenten Beziehung um Höhen und Tiefen, Selbstverwirklichung und inwieweit man selbst sein kann in einer langjährigen Beziehung.

Diane Keaton und Woody Allen

Der achte Spielfilm des Filmemachers Woody Allen stellt einen Wendepunkt in dessen Schaffen und Karriere dar. Hier machte er vieles anders als in den Filmen zuvor, aber zugleich entwickelte er hier nicht nur sein Alter Ego, den Stadtneurotiker, sondern auch seinen typischen Stil, der einen Woody-Allen-Film ausmacht. Gemeinsam mit dem Amerikaner Marshall Brickman (*1941) schrieb er das Drehbuch, für das sie zusammen den Oscar für das ‚Beste Originaldrehbuch‘ erhielten. Die beiden lernten sich bei einer Show kennen, bei der sie beide einen Auftritt hatten. Danach kamen sie ins Gespräch und beschlossen, zusammen ein Drehbuch zu schreiben. Meistens gingen sie dafür spazieren, unterhielten sich und Allen schrieb danach alles nieder, was Brickmann dann ergänzte. Auf diese Art schrieben sie auch die Drehbücher für „Sleeper“ (1973) und „Manhattan“ (1978) zusammen. Das ursprüngliche Drehbuch bestand aus vielen verschiedenen Elementen und enthielt u.a. auch einen Mord, wurde dann aber entschlackt. 

Shelley Duvall und Woody Allen

Das Drehbuch besitzt viele Raffinessen, obwohl es in seinem Kern eine Boy-Meets-Girl-Geschichte bis hin zur Trennung erzählt. Dabei fängt Woody Allen die Beziehung ganz authentisch ein. Die Szenen, die Streits und auch das Auf und Ab der Zuneigung sind aus dem Leben gegriffen. Doch das erzählerische Gerüst drum herum enthält viele Überraschungen. Zum einen ist der Film nicht chronologisch – er springt wie Erinnerungen von Szene zu Szene und ist so selbst wie eine Reflexion der Beziehung im Kopf aufgebaut. So vermischt sich hier die Realität mit Gedanken und genauso werden im Rückblick Szenen verklärt oder analysiert. Hinzu kommt die sehr persönliche Ebene zu Woody Allen selbst. Auch wenn er sich lange dagegen gewehrt hat, dass er der Stadtneurotiker ist, steckt doch viel von ihm in dieser Figur. So baute er nicht nur seine Religion, Kindheit, seinen Beruf und seine Liebe zu New York ein, sondern präsentierte auch seine Sicht auf Beziehungen – auch in Woodys Allen Leben gab es ein ständiges Auf und Ab. Zu dieser Zeit war er mit Diane Keaton liiert und ergänzte so ihre Figur Annie Hall, benannt nach dem Mädchennamen von Keaton, um ganz typische Wesenszüge von Diane. 

Diane Keaton und Woody Allen

Trotzdem ist der Stadtneurotiker mehr als nur sein Ebenbild. Diese Kunstfigur, die lose auf den Figuren der Screwball-Komödien der 30er Jahre basiert, entwickelte sich zu einem Archetyp. Ein Mensch, der sich ganz natürlich in den Mittelpunkt stellt, ständig mit sich hadert und sich trotzdem auch überschätzt. Dieser nimmt mit Sarkasmus sein eigenes Milieu aufs Korn und verbirgt aber hinter jedem cleveren Satz oder Schlagabtausch auch eine gewisse Traurigkeit, vor allem über das eigene Selbst. Der Stadtneurotiker fand eine neue Antwort, wie man mit der eigenen Unsicherheit in allen Lebenslagen umzugehen weiß. Die Figur ist zudem ein Spiegel ihrer Zeit und wirft gleichzeitig den romantischen Blick auf die Großstadt New York, der danach weiter ausgebaut wurde und in den Köpfen vieler Reisenden steckt. So begründete „Der Stadtneurotiker“ mit seinen durch und durch gelungenen Drehbuch Woody Allens Stil, zeigt, dass er erwachsen geworden ist und seine Geschichten nicht nur noch auf reine Komik aufbaut, so dass der Film auch heute, 45 Jahre später, immer noch sehr gut funktioniert.

Woody Allen und Diane Keaton

Die Umsetzung ist ebenso raffiniert und durchdacht wie das Drehbuch. Im Gegensatz zu seinen früheren Filmen merkt man auch auf formaler Ebene eine deutliche Entwicklung. Er selbst benennt Gordon Willis, einen Kameramann, als seinen Mentor, der ihm half, besser mit Licht und Kamera umzugehen. Andere Quellen sagen, dass der Cutter Ralph Rosenblum (1925-1995) eine großartige Arbeit geleistet habe, aus den vielen verschiedenen Szenen einen zusammenhängenden Film zu schaffen, der einem roten Faden folgt. Auf musikalischer Ebene ist „Der Stadtneurotiker“ auch ein Unikat. Vorher und nachher hat Woody Allen nie wieder auf Musik verzichtet, doch hier versuchte er sich im Stil von Ingrid Bergman minimalistisch und ließ nur Source Music (Musik, die in der filmischen Realität stattfindet) zu. So schmiegt er sich im Gesamten dem neuen filmischen Ansatz an, bringt zusätzlich Humor herein und unterstützt die Geschichte perfekt, sodass hier ein großer, selbstreflexiver, unterhaltsamer Hollywood-Film entstand, der auch Jahre später, obwohl stark in seiner Zeit verhaftet ist, überzeugt. 

Diane Keaton und Woody Allen

Der mittlerweile 87-jährige Regisseur, Drehbuchautor, Schauspieler und Komiker Woody Allen (*1935) hatte seinen ersten Auftritt in „Was gibt’s Neues, Pussy?“ (1965) und drehte seit seiner ersten Regie-Arbeit „Woody, der Unglücksrabe“ (1969) ununterbrochen Filme. Meist drehen sie sich um zwischenmenschliche Beziehungen, aber auch Genrethemen baut er von Zeit zu Zeit gerne ein. „Der Stadtneurotiker“ stand somit am Anfang einer langen Karriere. Erst vor kurzem startete sein bisher letzter Film „Rifkins Festival“ (2022) in den Kinos. Seine Filme prägten den Blick auf Mann-Frau-Beziehungen genauso wie den romantischen Blick auf New York, aber auch viele europäische Drehorte. Manche Sätze und Weisheiten wurden zu geflügelten Worten und umschreiben von Zeit zu Zeit perfekt das eigene Leben. Auch bei den Oscars waren seine Filme immer beliebt. Ganze 24 mal war er nominiert in den Kategorien ‚Beste Regie‘, ‚Bester Hauptdarsteller‘ oder ‚Bestes Drehbuch‘. Viermal konnte er die Trophäe (neben dem „Der Stadtneurotiker“ für „Hannah und ihre Schwestern“ (1987) und „Midnight in Paris“ (2012)) gewinnen, nahm aber keinen dieser Preise persönlich entgegen. Doch nicht nur Oscars gab es für seine Arbeiten, sondern auch Golden Globes, BAFTAs (British Academy Film Award) und den Silbernen Bären für sein Lebenswerk. Darüber hinaus schreibt Allen noch Bücher, inszenierte Theaterstücke und macht seit jungen Jahren Jazzmusik mit seiner ‚Eddy Davis New Orleans Jazz Band‘.

Diane Keaton und Woody Allen

Woody Allen war auch für „Der Stadtneurotiker“ als Bester Hauptdarsteller nominiert, aber die Trophäe ging an Richard Dreyfuss für den Film „Der Untermieter“ (1977). Doch nicht nur, dass er sich Rollen auf den Leib schrieb, er hatte schon immer ein gutes Händchen für das Handwerk des Schauspiels. Viele Darsteller:innen haben aufgrund seiner Rollen Oscars erhalten u.a. Michael Caine („Hannah und ihre Schwestern“ (1987)), Dianne Wiest („Hannah und ihre Schwestern“ (1987) und „Bullets over Broadway“ (1994)) und Cate Blanchett („Blue Jasmine“ (2013)). Hier in dem Film spielt seine damalige Lebensgefährtin Diane Keaton (*1946) den Gegenpart. Auch ihr wurde die Rolle auf den Leib geschrieben. Mehr noch: Ganz viel ihrer Persönlichkeit spiegelt sich in der Figur wieder. Was sich zum Beispiel auch auf das Kostümdesign auswirkte. Sie setzte sehr kreative, eigenwillige Outfits durch, welche die Kostümdesignerin Ruth Morley nicht gut hieß. Für diese Performance erhielt sie den Oscar als ‚Beste Hauptdarstellerin‘. Auch wenn der Film ihre Karriere ankurbelte, nachdem sie schon in „Der Pate“-Trilogie (1972-1990) zu sehen war, und wir sie bis heute in Filmen u.a. „Was das Herz begehrt“ (2003) und „Book Club“ (2018) sehen, blieb es bisher ihr einziger Oscar-Gewinn. Neben den beiden sehr prominenten Hauptdarsteller:innen waren auch der Nebencast sehr gut besetzt und man kann u.a. Sigourney Weaver („Alien“ (1979)) in ihrer ersten Rolle sehen sowie Jeff Goldblum („Jurassic Park“ (1993), „Grand Budapest Hotel“ (2014)), Christopher Walken („Pulp Fiction“ (1994), „Hairspray“ (2007)) und den Schriftsteller Truman Capote. 

Woody Allen

Seine Premiere feierte der Film, der noch drei Wochen vorher den sperrigen Arbeitstitel ‚Anhedonia‘ führte, was durch einen Freund und Produzenten noch verhindert wurde, auf dem Los Angeles Film Festival. Auch dieser Oscar-Gewinner konnte seinen enormen Erfolg an Einspielergebnissen messen. Ebenso konnte er weitere Preise gewinnen, u.a. vier BAFTAs, einen César und einen Golden Globe für die ‚Beste Hauptdarstellerin‘. 

Fazit: „Der Stadtneurotiker“ ist ein Spielfilm aus dem Jahr 1977 von Woody Allen, der auf der 50. Oscarverleihung mit vier Oscars ausgezeichnet wurde. Im Kern schildert der Autor, Regisseur und Schauspieler Allen darin eine klassische Beziehungsgeschichte mit zahlreichen Höhen und Tiefen. Durch zahlreiche erzählerische Kniffe, Authentizität und selbstverständlich viel treffsicheren Humor, der sich sowie die menschliche Natur aufs Korn nimmt, geht diese Mischung auch noch 45 Jahre später auf, womit er zu den Must-Sees der Woody-Allen-Filme gehört.

Bewertung: 9,5/10

Trailer zum Film „Der Stadtneurotiker“

geschrieben von Doreen Matthei

Quellen:

  • Wikipedia-Artikel über den Film „Der Stadtneurotiker
  • Wikipedia-Artikel über die Oscarverleihung 1978
  • Wikipedia-Artikel über die Schauspielerin Diane Keaton 
  • Wikipedia-Artikel über den Regisseur Woody Allen
  • Frank-Michael Helmke, ‚Der Stadtneurotiker‘, filmszene.de, 2010
  • Wolfgang Limmer, ‚Woody am Wendepunkt‘, spiegel.de, 1978
  • Kubiak, Hans-Jürgen: Die Oscarfilme, Schüren-Verlag GmbH, Marburg, 2007.
  • Koebner, Thomas: Filmklassiker, Band 4, 1978-1992, Philipp Reclam junior, Stuttgart, 2006.
  • Müller, Jürgen: Filme der 70er, Taschen, Köln, 2017.
  • Kubiak, Hans-Jürgen: Die Oscarfilme, Schüren-Verlag GmbH, Marburg, 2007.
  • Allen, Woody und Frodon, Jean-Michel: Woody Allen im Gespräch mit Jean-Michel Frodon, Diogenes Verlag, Zürich, 2005.
  • Allen, Woody und Björkman, Stig: Woody Allen on Woody Allen: in conversation with Stig Björkman, Faber and Faber Verlag, London, 2004.
  • Girgus, Sam B.: The films of Woody Allen, Cambridge University Press, Cambridge, 1993.
  • Allen, Woody: Four films of Woody Allen, Random House, New York, 1982.
  • Felix, Jürgen: Woody Allen: Komik und Krise, Hitzeroth Verlag, Marburg, 1992.

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