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Ingwer (Charly Hübner) lebt am Ende seiner vierziger Jahren mit Ragnhild (Julika Jenkins) und Claudius (Nicki von Tempelhoff) zusammen und hat schon längst den Ort seiner Heimat hinter sich gelassen. Doch als er erfährt, wie es seinen Eltern Ella (Gabriela Maria Schmeide) und Sönke (Rainer Bock) geht, macht er sich auf den Weg nach Brinkebüll, der sich durch den ländlichen Strukturwandel immer mehr verändert. Der Ort seiner Kindheit, wo er zusammen mit Marret (Gro Swantje Kohlhof) aufgewachsen ist und auch den Betrieb im Gasthof seiner Eltern miterlebt hat, ist nun den Alten überlassen. Trotz allem beschließt er, für eine Weile zu seiner dementen Mutter (Hildegard Schmahl) und seinem starrköpfigen Vater (Peter Franke) zu ziehen, um zu helfen.
Nach dem gleichnamigen Roman (2018) der deutschen Schriftstellerin Dörte Hansen (*1964) schrieb Catharina Junk ein Drehbuch, das sich mit vielen Themen gleichzeitig beschäftigt. Neben der Frage der persönlichen Entwicklung und dem Kümmern um die eigenen Eltern und wie dies miteinander vereinbar ist, stehen Themen wie Elternschaft, (langjährige) Beziehungen und das Gasthaussterben sowie der ländliche Strukturwandel im Zentrum der Geschichte. Der deutsche Regisseur Lars Jessen („Am Tag als Bobby Ewing starb“ (2005)) verfilmt es als atmosphärisch dichtes Drama, das mit zwei Zeitebenen alle Aspekte miteinander vereint. Und auch wenn man als Zuschauer:in die Pointe erahnt, bleibt die teilweise nebulöse Familienvergangenheit genauso spannend, wie die äußerst authentisch wirkende Jetzt-Handlung des Films. Denn viele Menschen sind an dem Punkt angelangt, wo man sich fragen muss, wie man mit der eigenen Heimat und mit den Eltern, die irgendwann auf Hilfe angewiesen sind, umgeht. Jessen findet keine allgemeingültigen Antworten, aber taucht damit gelungen in die Materie ein, die einen selbst fragen lässt, wie man das anpacken würde. Aber auch das Dorfsterben, was man vielerorts erleben kann, ist hier ein wichtiger Bestandteil der Geschichte. Was macht das mit Deutschland und dem eigenen Begriff von Heimat? Natürlich findet der Film auch hierauf keine allgemeingültige Antwort, regt aber zum Diskurs an.
Michael Lott, Gabriela Maria Schmeide, Rainer Bock, David Bredin und Gro Swantje Kohlhof
Für seine Geschichte fand Jessen die richtige Inszenierung. Zum einen besitzen die beiden Zeitebenen einen unterschiedlichen Look: Während die Vergangenheit mit vielen warmen Farben arbeitet, ist die Gegenwart in ein Grau gehüllt. Die Veränderungen des Ortes im Laufe der Zeit werden ebenso eingefangen, wie das sich ändernde Lebensgefühl. So fand er die richtigen Locations für das grandiose Spiel aller Darsteller:innen. Allen voran glänzt Charly Hübner („Das Leben der Anderen“ (2006), „Lindenberg! Mach Dein Ding“ (2019)) in der Rolle eines Mannes, der zwischen einem modernen Leben, seiner Vergangenheit und der neuen Verantwortung seinen Eltern gegenüber halb gefangen zu sein scheint, aber trotzdem seinen Humor nicht verloren hat. Aber auch der restliche Cast u.a. Gro Swantje Kohlhof („Wir sind jung. Wir sind stark“ (2014), „Schlaf“ (2020)) und Rainer Bock („Das weiße Band“ (2009), „Jugend ohne Gott“ (2017)) wissen ihre Rollen lebensecht zu verkörpern. Wenn man den Film dazu noch im Originalton schaut, kommt eine sprachliche Ebene hinzu, welche Unterschiede herausarbeiten kann, denn hier reichen sich Hoch- und Plattdeutsch (welches die meisten Zuschauer:innen ohne Untertitel wohl nicht verstehen würden) die Hand. So entstand mit Musik, Kameraarbeit und Location- und Ensemble-Wahl ein atmosphärisch dichter Film, welcher die Romanvorlage gelungen für die Leinwand adaptiert.
Fazit: „Mittagsstunde“ ist die gleichnamige Adaption des 2018 erschienenen Romans von Dörte Hansen. Der Regisseur Lars Jessen erzählt zugleich von den Veränderungen des ländlichen Raums in Deutschland und einer Familiengeschichte, bei der vieles unausgesprochen bleibt. Mit der perfekten Locationwahl und einem großartigen Ensemble erzählt der Film seine Geschichte auf zwei Zeitebenen, besticht mit seiner realitätsnahen Inszenierung sowie seiner breiten Palette an Emotionen.
Bewertung: 8/10
Kinostart: 22. September 2022 / DVD-Start: –
Trailer zum Film „Mittagsstunde“:
geschrieben von Doreen Kaltenecker
Quellen:
- Ulrich Sonnenschein, ‚Kritik zu Mittagsstunde‘, epd-filmd.de, 2022
- Bettina Peulecke, ‚“Mittagsstunde”: Urkomischer, oft tieftrauriger & einfühlsamer Film‘, ndr.de, 2022
- Jörg Magenau, ‚Dörte Hansen: “Mittagsstunde” – Damals hinterm Deich‘, deutschlandfunk.de, 2018
- Viola Diem, ‚“Mittagsstunde”: Nordische Kombination‘, zeit.de, 2022