„Birdman oder (Die unverhoffte Macht der Ahnungslosigkeit)“ (2014)

Doreen Kaltenecker
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Filmkritik: Der mexikanische Regisseur Alejandro G. Iñárritu, der sich schon mit Filmen wie „21 Gramm“ (2003) und „Babel“ (2006) einen Namen gemacht hat, schaffte es mit seiner ersten Komödie – „Birdman oder (Die unverhoffte Macht der Ahnungslosigkeit)“ (OT: „Birdman or (The Unexpected Virtue of Ignorance)“, USA, 2014) zu der 87. Oscarverleihung, welche zum ersten Mal von Neil Patrick Harris moderiert wurde und am 22. Februar 2015 im Dolby Theatre in Los Angeles stattfand. Er wurde in 9 der 18 Kategorien nominiert. Davon gewann der Film vier (‚Bestes Originaldrehbuch‘, ‚Beste Kamera‘, ‚Beste Regie‘ und ‚Bester Film‘) und drei davon konnte Iñárritu selbst in Empfang nehmen und war so er ohne Frage der Star des Abends. In der Hauptkategorie ‚Bester Film‘, in dem er u.a. der erste Gewinner war, der eine Klammer und einem ‚X‘ im Namen hatte und rein digital gefilmt wurde, setzte er sich gegen die starke Konkurrenz u.a. von „Grand Budapest Hotel“ (2014), „Selma“ (2014, „Boyhood“ (2014) und „Imitation Game“ (2014) durch.

Michael Keaton und Edward Norton

Der Inhalt: In drei Superhelden-Filmen hat sich Riggan Thomson (Michael Keaton) weltweit einen Namen als Schauspieler gemacht. Er verschmolz im allgemeinen Bewusstsein mit seiner Figur – dem Birdman. Doch bevor er noch einen vierten Teil drehte, entschied er sich, zum Broadway zu gehen. Dort ist er dabei, Raymond Carvers Stück „What We Talk About When We Talk About Love“ zu inszenieren und besetzt sich selbst in der Hauptrolle, um sich und der Welt zu zeigen, dass er mehr ist als Birdman. Doch bereits bei den Vorbereitungen geht Vieles schief: Nicht nur dass seine Geliebte Laura (Andrea Riseborough) möglicherweise schwanger ist, ein Schauspieler durch den Exzentriker Mike Shiner (Edward Norton) ersetzt werden muss und er seine Tochter Sam (Emma Stone) nicht nur wie eine Assistent behandeln muss, sondern er hört auch unablässig eine Stimme im Kopf, die ihm sagt, dass das alles nicht funktionieren wird.

Michael Keaton, Naomi Watts und Zach Galifianakis

Das Drehbuch zu dem Spielfilm schrieben die drei Autoren Nicolás Giacobone, Alexander Dinelaris Jr. (*1968) und Armando Bó (*1978) zusammen mit dem Regisseur Alejandro G. Iñárritu (*1963). Sie schufen eine bitterböse Geschichte über das Showbizz. Dabei greifen sie verschiedene Aspekte auf. Einerseits geht es um die Diskrepanz zwischen der Hollywood-Filmindustrie und dem Broadway-Theaterbetrieb. Dabei kommt die Filmbranche mit ihrem Hang zu Fortsetzungen und dem rabiaten Degradieren von nicht mehr gebrauchten Stars genauso schlecht weg wie der Theaterbetrieb am Broadway. Dort gibt es viele Menschen, die sich besser als die Filmleute fühlen und sich auf beinahe besessene Art und Weise in ihre Rollen hineinknien. Umso schöner ist es, dass der Film selbst beide Arten des Erzählens aufgreift. Lange Zeit ist der Film ein Kammerspiel, das die Räume des Theaters nicht verlässt, doch am Ende öffnet sich die Szenerie und die CGI-Effekte erhalten Einzug. Auch verschiedene Genre vereint Iñárritu mühelos. Es ist zum einen eine Charakterstudie über einen gebrochenen Menschen, doch gleichzeitig muss und kann man das alles nicht so ernst nehmen, so dass es eher eine schwarze Komödie ist. Für dieses durch und durch ungewöhnliche Skript wurden die vier Autoren mit einem Oscar in der Kategorie ‚Bestes Originaldrehbuch‘ ausgezeichnet.

Michael Keaton und Edward Norton

Der Film wurde ab März 2023 in zwei Monaten inklusive Proben in New York gedreht. Die meisten Drehtage wurden für die Innenaufnahmen verwendet. Dafür wurde das St. James Theatre in der 44. Straße in Beschlag genommen. Wenige Szenen sind dann außerhalb der Räume entstanden, u.a. auf dem Times Square, wo sie extra nach Mitternacht gedreht haben, so dass so wenig wie möglich reale, unbeteiligte Zuschauer:innen in den Dreh involviert wurden. Die Menschenschar bestand vor allem aus Crew-Mitgliedern und Statist:innen. Das Budget für den Film betrug vermutlich um die 18 Millionen Dollar. Die Besonderheit an dem Film ist die Kameraführung und der Schnitt, denn bis auf die Anfangs- und Schlusssequenz wirkt der Film, als ob er als One-Shot gefilmt wurde. Der Kameramann Emmanuel Lubezki (*1964), der auch die Oscars für „Gravity“ (2013) und „The Revenant – Der Rückkehrer“ (2015) gewinnen konnte, erhielt dafür den Oscar. Seine Kamera wandert suchend, fliegt zuweilen und rauscht durch die Gänge des Theaters. Dabei fügt sie scheinbar nahtlos alle kleinen Geschichten zusammen, entdeckt Heimlichkeiten und reist sogar in der Zeit zurück. Die Kameraführung ist genauso ruhelos wie seine Protagonist:innen. Das Innenleben dieser wird hier in der temporeichen stetigen Bewegung aufgegriffen und macht es für die Zuschauer:innen dadurch ganz nah erfahrbar. Natürlich ist es kein reiner One-Shot. Dafür gibt es in der Filmgeschichte nur wirklich wenige Beispiele. Sam Mendes’ Film „1917“ (2019) wirkt beispielsweise ebenso, arbeitet auch mit versteckten Schnitten. Die digitalen Schnitte sind hier so unsichtbar und gut versteckt, dass man als Zuschauer:in den Eindruck eines atemlosen Ritts bekommt. Im Gesamten waren aber nur 16 Schnitte notwendig. So dauerte der Schnittprozess am Ende des Films auch nur zwei Wochen. Dafür war es natürlich notwendig, dass viel, auch vor Ort, geprobt wurde, um das Timing und den Einsatz perfekt abzustimmen. Natürlich kam es dabei auch zu Patzern. Es hieß, Zach Galifianakis machte die wenigsten und Emma Stone die meisten (Anschluss-)Fehler. Doch wenn sie es schafften, diese so gut wie möglich zu überspielen, haben sie es sogar in den Film geschafft.

Michael Keaton

Die Ruhelosigkeit der Bilder wird perfekt von der Musik von Antonio Sanchez unterstützt. Diese besteht zu 90 Prozent aus Schlagzeugmusik. Das führte dazu, dass die Musik nicht die Kriterien erfüllte, um bei den Oscars in der Kategorie ‚Beste Musik‘ nominiert zu werden. Doch Sanchez, der die Musik selbst eingespielt hat, konnte dafür einen Grammy für ‚Best Score Soundtrack 2016‘ gewinnen und stellte damit sogar den Score von „Whiplash“, der ebenso drumlastig ist, in den Schatten. Die Besonderheit an der Musik ist, dass sie fließend wechselt zwischen Underscoring und diegetischer Musik. Das Underscoring, sprich die Musik, die nur die Zuschauer:innen hören, ist beinahe ständig vorhanden und untermalt den Weg und die seelische Verfassung aller Protagonist:innen. Diese verändert sich immer wieder im Tempo und in der Lautstärke und kündigt so den Höhepunkt an. Doch von Zeit zu Zeit wird sie auch als Musik im Film (diegetische Musik), welche die Helden selbst hören, sichtbar. Da sitzt dann auf einmal der Schlagzeuger im Gang und kommentiert mit seinem Spiel die Handlung. Hinzu kommt eine Auswahl klassischer Stücke u.a. von Mahler, Tschaikowsky und Rachmaninow. Dabei liegt die Interpretation nahe, dass die traumhaften Szenen, die Wünsche und Hoffnungen eher von dieser Musik begleitet werden, während das Schlagzeug die harte Realität bespielt. Doch auch diese Grenzen verwischen immer wieder. So ist Sanchez ein grandioser Soundtrack gelungen, der perfekt die Geschichte und vor allem das Unstete, das Quirlige und auch das Unzufriedene der Protagonist:innen vortrefflich einfängt.

Michael Keaton, Alejandro González Iñárritu

Die Regie übernahm der mexikanische Regisseur Alejandro González Iñárritu (*1963). Bereits vor diesem Spielfilm machte er sich mit den zwei episodisch erzählten Filmen „21 Gramm“ (2003) und „Babel“ (2006) einen Namen. Sein Film „Biutiful“ (2010) wurde zum ersten Mal für einen Oscar (‚Bester ausländischer Film‘) nominiert. Auch nach „Birdman“ war er mit „The Revenant – Der Rückkehrer“ (2015) und „Bardo, die erfundene Chronik einer Handvoll Wahrheiten“ (2022) noch einmal zu Gast bei den Oscars. Hier erzählt zum ersten Mal eine Komödie, die natürlich auch tragische Elemente enthält, zeigt aber, dass er auch ein Händchen für Humor hat. In seiner bisherigen Karriere ist „Birdman“ der kürzeste und humorvollste Film, für den er auch bisher als einziger Film mit dem Regie-Oscar ausgezeichnet wurde.

Michael Keaton und Edward Norton

Die Hauptrolle übernahm der 1951 geborene Schauspieler Michael Keaton, der sich mit Filmen wie „Beetlejuice“ (1988) und „Batman“ (1989) in den 80er Jahren einen Namen gemacht hatte. Bis zu „Birdman“ spielte er zwar weiterhin bei Filmen und Serien mit, doch hatte man ihn als Publikum nicht mehr richtig auf dem Schirm. Mit diesen Spielfilm, bei dem er seit 2008 erstmals wieder eine Hauptrolle übernahm, kam sein großes Comeback und so kann man ihn seitdem wieder öfters auf der Leinwänden sehen, u.a. in „Spotlight“ (2015), „The Founder“ (2016) und „Spiderman: Homecoming“ (2017). Seine ikonische Rolle war die Batman-Darstellung, der ersten beiden Batman-Filme aus der Hand des Regisseurs Tim Burton. In dieses Kostüm schlüpfte er in diesem Jahr noch einmal für den Film „The Flash“ (2023). Doch auch für die Darstellung in „Birdman“ war diese Rolle essentiell. Denn die Hauptfigur wird von der Figur des Birdman verfolgt. Sein Alter Ego-Superheld brachte ihm die größten Erfolge ein, weswegen er sich nun am Theater davon emanzipieren will. Aber seine quälende Stimme, die ihm sagt, dass er versagen wird, wird verkörpert von Birdman, der ihm mit ähnlich sonorer Stimme wie Christopher Nolans Batman sein Versagen einflüstert. So nimmt Keaton scheinbar viel von seiner eigenen Karriere mit rein und zeigt mit viel Ehrlichkeit das Ringen um künstlerische Integrität und Freiheit. Seine Darstellung ist so intensiv und facettenreich, dass man das Gefühl hat, die Figur bis in die Tiefe ergründen zu können. Dabei spielt er seine Rolle sehr ambivalent. Er ist genauso zornig, unangenehm wie auch verletzlich und traurig. So ist „Birdman“ trotz aller souveräner, erzählerischer Mittel vor allem auch großes Schauspielerkino, so dass es nicht verwundert, dass Keaton dafür für den Oscar als ‚Bester Hauptdarsteller‘ nominiert war und was ihm seitdem leider nicht mehr gelang und so seine Karriere bisher noch nicht mit einem Oscargewinn gekrönt wurde.

Emma Stone und Edward Norton

Doch nicht nur Michael Keaton spielt seine Rolle mit Bravour. Alle Darsteller:innen wie Naomi Watts ( „King Kong“ (2005), „Gefühlt Mitte Zwanzig“ (2014)), Andrea Riseborough („Oblivion“ (2013), „Possessor“ (2020)), Zach Galifianakis („Hangover“ (2009)) und Amy Ryan („Gone Baby Gone“ (2007), „Beau is Afraid“ (2023)) spielen ihre Rollen fantastisch und fügen sich in die quirlige Theaterwelt ein. Zwei aus dem Ensemble wurden ebenfalls mit einer Oscar-Nominierung bedacht. Als ‚Bester Nebendarsteller‘ war Edward Norton (*1969) nominiert. Der Preis ging schließlich an J. K. Simmons für den Film „Whiplash“ (2014). Norton spielt irgendwie auch eine Variante von sich selbst. Der Darsteller, der bereits zweimal für die Filme „Zwielicht“ (1996) und „American History X“ (1998) für einen Oscar nominiert war, gilt als besonders schwierig am Set. Dies überträgt er auf seine Rolle des Schauspielerkollegen Mike Shiner. Dieser ist enervierend, voller unnötiger Energie und bringt nicht nur Riggs, sondern auch die Zuschauer:innen beinahe zur Weißglut. Nominiert in der Kategorie ‚Beste Nebendarstellerin‘ war die damals 25-jährige Emma Stone, welche zwei Jahre später ihren ersten Oscar für ihre Rolle in „La La Land“ (2016) erhalten sollte. Die Schauspielerin fiel vor „Birdman“ mit ihrer Darstellung in Filmen wie „Zombieland“ (2009), „The Help“ (2011) und den beiden „Amazing Spider-Man“-Filme (2012, 2014) auf. Doch hier zeigt sie nochmal ein ganz anderes Talent. Es ist eine tragikomische Rolle. Sie spielt die Tochter von Riggs – eine junge Frau, die nicht so richtig weiß, was sie will und die mit ihrer Schnoddrigkeit auch gerne mal Menschen verprellt. So deutet die Rolle die große Bandbreite der Rollen an, welche Emma Stone in den kommenden Jahren noch spielen wird, man denke dabei an ihre Darstellung in „The Favourite – Intrigen und Irrsinn“ (2018), die Serie „Maniac“ (2018) und „Cruella“ (2021).

Michael Keaton

Seine Uraufführung hatte der Film auf den Internationalen Filmfestspielen von Venedig und startete am 17. Oktober 2014 in den Kinos. Am 29. Januar 2015 kam der Film in die deutschen Kinos. Bei einem Budget von 18 Millionen US-Dollar konnte er fast das Sechsfache seiner Produktionskosten (103 Millionen US-Dollar) einspielen. Bereits in Venedig konnte er die ersten vier Preise gewinnen, danach folgten Auszeichnungen bei dem Independent Spirit Award (u.a. Bester Film), Golden Globes (Bestes Drehbuch, Bester Hauptdarsteller), National Board Review (u.a. Bester Hauptdarsteller) und ein Cesar für den ‚Besten ausländischen Film‘. Seit seiner Veröffentlichung hat sich Birdman ins kulturelle Gedächtnis eingebrannt und wird u.a. in Serien wie „BoJack Horseman“ (2014-2020) und „Always Sunny in Philadelphia“ (seit 2005) zitiert. Auch hat der Film auch acht Jahre nach seiner Entstehung noch keine Einbußen erfahren, so dass er auf dem besten Weg ist, ein zeitloser Klassiker zu werden, der die Theaterszene und das Schauspielertum auf seine ganz ungewöhnliche Art auf die Schippe nimmt.

Michael Keaton

Fazit: „Birdman oder (Die unverhoffte Macht der Ahnungslosigkeit)“ ist ein Spielfilm des mexikanischen Regisseurs Alejandro González Iñárritu, der auf der 87. Oscarverleihung 2015 vier der begehrten Trophäen, u.a. für den ‚Besten Film‘, die ‚Beste Regie‘ und das ‚Bestes Originaldrehbuch‘, gewinnen konnte. Der 119-minütige Spielfilm ist eine gnadenlose Abrechnung mit dem Film- und Theaterbusiness und dem Schauspielersein. Er ist dabei gleichermaßen realitätsnah, überzogen, humorvoll und anstrengend. Das verdankt der Film auch seiner grandiosen Inszenierung als ein gefühlter One-Shot mit einer treibenden, musikalischen Untermalung. Darüber hinaus ist er ein großes Schauspielerkino, das wahrlich auch Oscars für seine Darsteller:innen verdient hätte. Michael Keaton als Hauptdarsteller beflügelte damit seine Karriere erneut. Dieser atemlose Trip hat sich bereits ins kulturelle Gedächtnis gebrannt und ist auch in der Rückschau ein perfekt ausgewählter Oscargewinner.

Bewertung: 8/10

Trailer des Films „Birdman“

geschrieben von Doreen Kaltenecker

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