Studium der Kunstgeschichte - Schwerpunkt: Filmgeschichte (Abschluss 2010 mit der Arbeit "Rembrandt im Spielfilm") Nebenfächer: Philosophie und Alte Geschichte
- seit 2012: Filmkritikerin bei movieworlds (Kino, DVD, BD, Festivalberichte)
- seit 2015: Blog 'Testkammer' online
Letzte Artikel von Doreen Kaltenecker (Alle anzeigen)
Filmkritik: Der Dokumentarfilm „The Case You“ von Alison Kuhn, der auf dem 42. Filmfestival Max Ophüls Preis seine Deutschlandpremiere feierte und dort auch mit einem Preis für die ‚Beste Filmmusik‘ ausgezeichnet wurde, erzählt mit einer gelungenen Mischung aus Interviews und Aufarbeitungsszenen von einem Casting, bei dem jungen Frauen massiv belästigt wurden.
In einem Theatersaal treffen sich fünf junge Frauen und tauschen sich über Vorkommnisse bei einem Casting vor über vier Jahren aus. Bei diesem Casting kam es zu systematischen Übergriffen – gewaltsam und sexuell. Der damalige Regisseur schlug zudem daraus auch Kapital und machte einen Film aus dieser Audition. Jetzt sprechen die fünf Frauen zusammen über diese Vorfälle, rekonstruieren sie und ergründen wie es ihnen damit geht und was diese mit ihnen gemacht hat.
Die Regisseurin Alison Kuhn ist auch Schauspielerin, so kann man sie u.a. in dem Kurzfilm „Das Leben ist sonnig und schön“ (2021) sehen. Sie hat ebenfalls an dem besagten Casting teilgenommen und als sie ihr Regiestudium an der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf begann, beschloss sie sich mit den Erlebnissen filmisch auseinanderzusetzen. Sie selbst bleibt dabei hinter der Kamera und spricht mit fünf weiteren Frauen, welche das Gleiche erlebt haben. Zusammen rekonstruieren sie die Vorgänge, schildern ihre Sicht und unterstützen sich gegenseitig darin über die Taten zu sprechen. Als ZuschauerIn ist man hier fassungslos: Denn es handelt es sich nicht nur um die Tat eines einzelnen Mannes, sondern um einen systematischen Machtmissbrauch an vielen jungen Frauen über mehrere Tage hinweg, welche auch noch von weiteren Menschen, welche mit und für den Regisseur gearbeitet haben, unterstützt wurde. Wie ist so etwas möglich? Wieso kam es bisher zu keiner strafrechtlichen Verfolgung? Erst als der Regisseur aus den Castingaufnahmen auch noch einen Film machte, regte sich juristischer Widerstand. Doch neben diesen offensichtlichen Fragen zum Casting selbst, entstehen noch mehr im Kopf des Publikums. Es geht im Allgemeinen um den Umgang mit Frauen, deren Ausnutzung und wie dies immer noch trotz aller #MeToo-Debatten Alltag ist. Auch zeigt es, was es mit den jungen Frauen macht, welche danach meistens einfach nur Alles vergessen wollen. Wie dringt so etwas in die Psyche ein? Alison Kuhn findet dafür nicht nur den richtigen Zugang durch die Interviews, sondern auch den stimmigen, visuellen Ansatz. In einem leeren Theatersaal treffen die Frauen aufeinander, können sich offen austauschen, die Bühne nutzen und sich in Einzelinterviews mit der Filmemacherin unterhalten. Unterstützt wird das Ganze durch die Musik von Dascha Dauenhauer („Megatrick“ (2017), „Love me, fear me“ (2018), „Ekstase“ (2019) und „Berlin Alexanderplatz“ (2019)), die dafür auch den Preis für die ‚Beste Filmmusik‘ auf dem diesjährigen Filmfestival Max Ophüls Preis gewann. Im Gesamten entstand eine sehr aufwühlende Dokumentation, die sich von einem persönlichen Standpunkt ausgehend mit einem Thema beschäftigt, das zu oft unbeachtet bleibt. So ist der Film nicht nur eine Auseinandersetzung mit vergangenen Ereignissen, sondern auch eine Kampfansage an ein System, das sowas zulässt und immer noch die Opfer eher diffamiert als die Täter.
Fazit: „The Case You“ ist eine Dokumentation von Alison Kuhn, in der sie sich mit fünf weiteren Frauen trifft, um über Übergriffe bei einem vergangenen Casting zu sprechen. Erst jetzt nach einigen Jahren brechen sie ihr Schweigen, reden über die Ereignisse und was diese mit ihnen gemacht haben. Im Schutzraum eines Theatersaals öffnen sie sich und so trifft die Geschichte direkt ins Herz der ZuschauerInnen und evoziert neben Fassungslosigkeit auch den starken Wunsch, dass sich etwas ändern muss.